Politische Bildung für Behinderte: Und jetzt noch mal alle
In Frankfurt (Oder) lernen Menschen mit Behinderungen, wie Politik funktioniert – auch in Hinblick auf die Brandenburger Landtagswahlen kommendes Jahr.
H abt ihr schon mal was vom Behindertenbeirat gehört?“, fragt Janine* in die Gruppe. Stille. Dann sagt eine junge Frau. „Schon mal gehört, aber was die machen, keine Ahnung.“ „Sie vertreten Menschen wie euch und setzen sich für euch ein“, antwortet Janine.
Empfohlener externer Inhalt
Die 27-Jährige sitzt in einem Seminarraum der Gronenfelder Werkstätten in Frankfurt an der Oder. Der Raum ist schlicht gehalten, neben einem Whiteboard steht ein Tisch mit Sprudelwasser, Kaffee und Keksen. Zwölf Menschen mit Behinderungen haben sich hier versammelt, um an sechs Projekttagen zu lernen, wie Politik funktioniert.
Gemeinsam mit ihrem Kollegen Heinrich Stephan von der Brandenburger Lebenshilfe hat Janine die Projekttage in Leichter Sprache konzipiert. Sie hat selbst eine Lese- und Sehschwäche und weiß deshalb gut, wie man Inhalte einfach und verständlich vermittelt.
Die taz hat die Workshops von Juli bis November begleitet. Die Themen: Gerechtigkeit, politische Teilhabe, Gesetze, Wahlen, Umwelt und Nachhaltigkeit. Es ist ein Crashkurs in Politik, der die Gruppe zur politischen Teilhabe ermutigen soll. Denn bei den letzten Landtagswahlen gingen nach Eindruck von Werkstättenmitarbeitenden nur sehr wenige aus den Gronenfelder Werkstätten wählen. Politik ist vielen der Teilnehmer:innen fremd. Das wollen Heinrich Stephan und Janine ändern.
Jeder und jede soll mitkommen
Die Werkstätten selbst liegen inmitten von grünen Feldern, nur wenige Autominuten vom Stadtrand von Frankfurt, einer von vier kreisfreien Städten Brandenburgs, entfernt. Auf dem Gelände reihen sich Bauernhäuser neben modernen Holzneubauten. Vor dem Hauptgebäude spielen an diesem Sommertag Anfang Juli einige Leute Tischtennis, andere stehen in kleinen Gruppen am Rand und unterhalten sich. Man sieht Menschen mit und ohne Rollstuhl, Teenager und ältere Menschen. In den Werkstätten wird geschreinert, gegärtnert und getöpfert. Sie geben Menschen eine Arbeit, die auf dem regulären Arbeitsmarkt nicht ankommen.
Die Teilnehmer:innen sind zwischen 19 und 56 Jahre alt. Sie haben alle unterschiedliche kognitive oder psychische Behinderungen. Manche kommen direkt von der Förderschule, andere haben bereits eine Ausbildung angefangen, dann aber bemerkt, dass sie sich damit überfordert fühlen. Sie sind jetzt in der Werkstatt, um herauszufinden, mit welcher Tätigkeit sie sich wohl fühlen. Und wieder andere waren bereits auf dem Arbeitsmarkt. Ihr Krankheitsbild hat sich aber so entwickelt, dass sie jetzt nicht mehr in der Lage sind, regulär zu arbeiten.
Die unterschiedliche Leistungsfähigkeit der Teilnehmer:innen ist auch eine Herausforderung für das Dozent:innen-Team. Denn jede:r soll bei den Inhalten mitkommen. Die richtige Kommunikation zu finden, ist Kernaufgabe der Leichten Sprache. Dabei sind es oft kleine Dinge, die einen großen Unterschied machen: regelmäßige Pausen, um die Konzentration der Teilnehmenden beizubehalten. Oder etwa eine Karte, die man heben kann, wenn man etwas nicht versteht.
„Es gibt bisher sehr wenige Angebote zu politischer Bildung in Leichter Sprache“, erzählt Heinrich Stephan, der seit vielen Jahren bei der Lebenshilfe im Bildungsbereich tätig ist. Das war auch der Anreiz für das politische Bildungspprojekt.
Bei den Grünen geht es um Umwelt
Gerade in einem Bundesland, in dem die AfD mit Umfragewerten von 32 Prozent bei den Landtagswahlen im kommenden Jahr die stärkste Kraft werden könnte, ist politische Bildung so wichtig wie nie zuvor – denn ein Wahlerfolg der AfD hätte auch Folgen für Menschen mit Behinderungen. Im Wahlprogramm der Rechten zu den Landtagswahlen 2019 kommen sie mit keinem Wort vor.
Aber im MDR-Sommerinterview im August weckte der Thüringer Fraktionschef der AfD und Rechtsextremist Björn Höcke mit seiner Aussage über „Ideologieprojekte wie Inklusion“, die „unsere Kinder nicht“ weiterbringen würden, böse Vorahnungen und laute Proteste von Behindertenverbänden.
Bei Grünen, SPD, Linken und CDU gibt es dagegen politische Forderungen für Menschen mit Behinderungen, wie bezahlbaren Wohnraum oder eine konsequente Umsetzung des Wahlrechts ein, wozu auch die Verbesserung der Barrierefreiheit zählt. In Brandenburg waren bei der Bundestagswahl 2021 laut Landeswahlleitung nur 68 Prozent der Wahlbüros barrierefrei.
Die 19-jährige Sabrina Schulz weiß bisher wenig über die unterschiedlichen Parteien in Deutschland. Nur bei den Grünen fällt ihr ein: „Bei denen geht es um die Umwelt.“ Sabrina leidet unter einer fetalen Alkoholspektrumstörung, was sich auf ihre Aufnahmefähigkeit und Sprache auswirkt. Sie braucht manchmal einen Moment länger, um auf das Gesagte zu reagieren. Mehr über Politik zu erfahren, war für sie eine Motivation, an den Projekttagen teilzunehmen.
Politik hat wenig mit ihrem Alltag zu tun
Sabrina hat sich wie alle anderen Teilnehmer:innen freiwillig angemeldet. Derzeit macht sie eine Berufsausbildung in den Werkstätten, zuvor hat sie eine Ausbildung in der Gärtnerei angefangen. Die war ihr aber zu schwer, weil sie dort zu viele botanische Begriffe auswendig lernen musste. Ob sie Politikunterricht in der Schule hatte? Ja schon, aber da sei nicht viel hängen geblieben. Insgesamt habe sie das Gefühl, dass Politik wenig mit ihrem Alltag zu tun hat.
Vor 2019 waren Menschen mit Behinderungen nur dann ihre Stimme abgeben, wenn sie in Teilbetreuung waren oder gar keine formalisierte Betreuung hatten. Menschen in Vollbetreuung waren vom Wahlrecht ausgeschlossen, weil sie als nichtwahlfähig gesehen wurden.
Das Bundesverfassungsgericht kippte das Verbot mit der Begründung, dass der pauschale Ausschluss gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz und gegen das Verbot der Benachteiligung behinderter Menschen verstoße. Seither können 85.000 Menschen zusätzlich in Deutschland wählen, das Entspricht etwa 0,14 Prozent aller Wahlberechtigten. In Brandenburg durften sie also schon bei der letzten Landtagswahl 2019 ihre Stimme abgeben.
Fast alle Teilnehmer:innen der Projekttage haben rechtliche Betreuer:innen. Sie helfen den Betroffenen dabei, ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu führen. Das kann zum Beispiel das Unterzeichnen eines Mietvertrags sein, die Vereinbarung von Arztterminen oder die Beantragung von Sozialleistungen. Mindestens drei Betreuerstunden pro Monat gewährt der Gesetzgeber.
Etwas bewegen können
Die rechtliche Betreuung kann ein Familienmitglied sein, die Partner:in, eine Vertrauensperson oder eine externe Person. Die Eltern sind es meistens nicht: „Vor allem, wenn die Betroffenen älter werden, gibt es oft Streit beim Thema Geld“, sagt Annett Waldow, die bei den Gronenfelder Werkstätten für die berufliche Bildung zuständig ist. Da sei es hilfreich, eine neutrale Person von außen zu haben, die unter die Arme greift.
Die Betroffenen können, sobald sie volljährig sind, selbst entscheiden, ob sie weiter von einer ihnen nahestehenden Person oder einer rechtlichen Betreuung vertreten werden wollen. Die rechtlichen Betreuer:innen werden ihnen per Amtsgericht zugeteilt. Wie nah sich die beiden dann stehen, ist von Fall zu Fall unterschiedlich. Die Grundidee ist jedoch, dass die betreute Person so selbstbestimmt lebt, wie nur irgend möglich.
Und zur Selbstbestimmung gehört eben auch, dass Menschen mit Behinderungen in ihrer politischen Meinungsbildung gestärkt werden. Teil der Gesellschaft zu sein, und in dieser auch etwas bewegen zu können: In den Diskussionen kommt laut Stephan immer wieder die Frage auf, was politische Teilhabe überhaupt bringen soll.
Der fehlende Glaube, dass man mit dem eigenen Engagement oder der eigenen Stimme etwas verändern kann, komme auch daher, dass Menschen mit Behinderungen sehr viel Kontakt zu staatlichen Institutionen über das Sozialsystem haben, weil sie beispielsweise bestimmte Leistungen beantragen müssen. „Dort werden ihnen oft Steine in den Weg gelegt. Diese Frustration trägt dazu bei, dass sie wenig Interesse für Politik haben“, beschreibt Stephan.
Angst vor der Wahl
Dass in den Werkstätten die politische Beteiligung noch relativ gering ist, hat man bei der letzten Landtagswahl gemerkt. Die wenigsten gingen zur Wahl. „Die meisten sind sich einfach unsicher, wo sie ihr Kreuz setzen sollen“, beschreibt Waldow. „In der Gruppe wussten viele gar nicht, dass sie überhaupt wählen dürfen“, berichtet auch Stephan. Viele hätten zudem schlicht Angst, was sie bei einer Wahl erwartet.
Diese Angst zu nehmen und die Teilnehmer:innen besser auf die Wahl vorzubereiten, ist ein Anspruch an die Projekttage. Nächstes Jahr wollen die Werkstätten deshalb auch einen Wahltag simulieren: Wahlurnen sollen aufgestellt sowie Stimmzettel verteilt werden, um die Teilnehmenden die Wahl mental durchspielen zu lassen.
Laut dem Teilhabebericht des Ministeriums für Arbeit und Soziales von 2021 hat die Wahlbeteiligung von Menschen mit Behinderung in den letzten Jahren zugelegt und lag zuletzt nur wenige Prozentpunkte unter der Beteiligungsquote der Menschen ohne Behinderung. Insgesamt lässt sich seit 2009 eine kontinuierliche Steigerung der Wahlbeteiligung von Menschen mit Behinderung beobachten
Dass sie inwischen häufiger an die Wahlurne treten, hängt vermutlich damit zusammen, dass sich die Barrierefreiheit insgesamt verbessert habe, sagt Peer Brocke von der Lebenshilfe. Er meint damit mehr Informationen in Leichter Sprache und bessere politische Rahmenbedingungen wie das Bundesteilhabegesetz.
Infos über die Sozialen Medien
Zur Barrierefreiheit gehört aber nicht nur die politische Bildung, sondern auch der Zugang. Allein der Weg zum Wahlbüro, kann für viele eine Herausforderung darstellen, wenn dieser nicht barrierefrei gestaltet ist. Diese Hürden sind oft für die anderen Wähler:innen unsichtbar. Ob eine Wahl barrierefrei ist, hängt oft an Kleinigkeiten: Gibt es eine Rampe, um in das Wahllokal zu kommen? Ist der Wahlzettel auch in Blindenschrift vorhanden?
Auch die Wahlprogramme der einzelnen Parteien sind nicht immer in Leichter Sprache verfügbar. Bei der Landtagswahl in Brandenburg 2019 waren es laut einer Studie der Universität Hohenheim lediglich die Grünen, die ihr Programm in Leichter Sprache zur Verfügung stellten.
Um mehr über das Parteiensystem in Deutschland zu erfahren, organisierte das Referent:innen-Team innerhalb der Workshopreihe auch einen Projekttag zum Thema Parteien und deren politische Ausrichtung. „Da haben wir gemerkt, dass die Gruppe ihre Informationen über die Parteien vor allem aus den sozialen Medien bekommt“, beschreibt Stephan.
Bei den Grünen kam in der Diskussion dann gleich das Vorurteil der „Verbotspartei“ auf. Mit Blick auf die CDU und die AfD gab es bei den Teilnehmer:innen den Grundtenor, dass die beiden Parteien sich nicht für Menschen mit Behinderungen stark machen würden. Bei der Auseinandersetzung mit der AfD gab es zudem die Angst, dass diese die Rechte von Menschen mit Behinderungen aktiv beschneide, wenn sie bei kommenden Wahlen an Einfluss gewänne.
Die da oben und wir da unten
Dass die Teilnehmer:innen sich über Plattformen wie Instagram, Facebook oder Tiktok informieren, ist kein Zufall: Die Inhalte werden dort einfacher und verständlicher präsentiert als in vielen anderen klassischen Medien.
Der 20-jährige Justin Geithe kann auch deshalb wenig mit Politik anfangen. Das fange schon bei den Nachrichten an, sagt er: „Ich verstehe nicht, wie die Menschen im Fernsehen sprechen. Das ist alles zu schnell.“ Politiker, das sind für Justin „die da oben“, die Menschen mit Behinderungen ganz unten sehen. Sie seien weit weg vom eigenen Leben und dächten nur an ihren finanziellen Vorteil, ist Geithe, der eine Lernbehinderung hat, überzeugt.
Es gab dann aber doch ein Thema, das den jungen Mann bewegt hat: „Mein kleiner Pflegebruder soll von der Schule verwiesen werden, weil sich die Lehrer mit ihm überfordert fühlen“, erzählt er während einer Gruppendiskussion. Und auch andere aus der Gruppe haben viel zum Thema Bildung zu erzählen.
Meist ist es eine persönliche Geschichte, eine Situation, in der sie sich ungerecht behandelt fühlen. Eine junge Teilnehmerin beschreibt, wie sie jahrelang in einer Behindertenklasse war, obwohl sie eigentlich nur eine Lese- und Sehschwäche hat. Andere haben genau das Gegenteil erlebt.
Viele Wochen und ein Highlight
„Insgesamt ist uns aufgefallen, dass vor allem das Thema Bildung und Arbeitsmarkt die Gruppe bewegt“, bilanziert Stephan. Viele wollen etwa auf dem regulären Arbeitsmarkt arbeiten, doch oft fehlen die Strukturen, um sie dort angemessen zu integrieren. Ist ein Arbeitgeber unflexibel, was die speziellen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen angeht, setzt oftmals ein Gefühl der Überforderung ein. So landen viele in den Werkstätten, obwohl sie eigentlich auf dem regulären Arbeitsmarkt arbeiten wollen. Ein Gefühl der Ausgrenzung entsteht.
Es ist mittlerweile Mitte November, der letzte Projekttag beginnt. Nur noch neun Teilnehmer:innen sind mit dabei, Justin ist nicht mehr zu sehen. Vier Termine haben sie mittlerweile hinter sich. Das spürt man im Raum. Die Gruppe wirkt gelöster, die Diskussionen kommen schneller in Gang. Das Thema heute: „Klimaschutz: Was hat das mit mir zu tun?“
In zwei Gruppen sollen sich die Teilnehmer:innen aufteilen und die Frage bearbeiten: „Was ist Klima?“, und „Was ist Wetter?“ Ihre Handys dürfen sie zur Recherche benutzen. „Das ist so Fachhochdeutsch, das versteht kein Mensch“, wirft eine der Teilnehmerinnen ein. „Soll ich euch helfen?“, fragt Janine. Doch die Teilnehmerin winkt lachend ab: „Ich glaube, da kommt jede Hilfe zu spät.“
„Wir sind in den letzten Wochen zusammengewachsen“, berichtet Heinrich Stephan. Ein Highlight sei der Besuch der brandenburgischen Behindertenbeauftragten gewesen. „Für die Gruppe war es schön zu erfahren, dass es eine reale Person gibt, an die sie sich mit ihren politischen Belangen wenden können.“
Eine kleine Wirkung setzt bereits ein
Und auch in den Werkstätten zeigten die Projekttage Wirkung. Nachdem bei einem Termin über Nachhaltigkeit diskutiert wurde, setzten sich im Anschluss ein paar der Teilnehmer:innen dafür ein, dass sich die Mülltrennung auf dem Gelände verbessert. Andere kontaktierten die Werkstättenleitung zum Thema Regenwasser. Sie wollen, dass es gesammelt wird, um es in der Gärtnerei wiederzuverwerten.
„Das soziale Engagement hat definitiv Fahrt aufgenommen“, sagt Stephan. Die Projekttage sollen nächstes Jahr weitergehen. Neben der Wahltag-Simulation soll es vor allem um die Frage gehen, welche Gesetze und Regelungen speziell Menschen mit Behinderungen betreffen.
Sabrina Schulze war bis zum Ende mit dabei. Sie arbeitet mittlerweile fünf Tage pro Woche für ein paar Stunden im Biosupermarkt auf dem Gelände. Sie räumt Regale ein und prüft, ob das Gemüse noch gut ist. „Ich habe viel gelernt“, erzählt sie nach dem letzten Projekttag.
Vor allem beim Thema Nachhaltigkeit war ihr nicht klar, dass man über kleine Veränderungen im Alltag schon so viel erreichen kann. Ob die Projekttage ihr geholfen haben bei der Entscheidung, wen sie nächstes Jahr wählen will? Das weiß sie noch nicht so genau, aber sie will auf jeden Fall ihr Häkchen setzen. Die Angst vor der Wahlurne wurde ihr also schon mal genommen.
*Janine möchte ihren Nachnamen nicht veröffentlicht sehen.
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