Politikwissenschaftler über die RAF: „Terrorismus war keine Rebellion“
Auch 40 Jahre nach dem Deutschen Herbst bleibt die linke Terrorgruppe RAF ein Mysterium. Die wichtigsten Fragen beantwortet Wolfgang Kraushaar.
Die RAF ist und bleibt auch 40 Jahre nach dem Deutschen Herbst ein Mysterium. Die Entführung von Hanns Martin Schleyer und die Odyssee der Lufthansa-Maschine „Landshut“ sind Ereignisse, die in den Köpfen hängen geblieben und unumstritten Teil der deutschen Geschichte geworden sind. 33 Tötungsdelikte, rund 250 Millionen Euro Sachschaden und mindestens 31 bewaffnete Banküberfälle gehen auf die RAF zurück. Doch schon bei den Selbstmorden der drei führenden Köpfe Ensslin, Baader und Meinhof bleiben Zweifel, ein Schleier des Nichtwissens, der auch eine abschließende Beurteilung der Gruppe bis heute erschwert. Oft hat man bei der RAF das Gefühl, alles und doch nichts zu wissen. Hier der Versuch einer Annäherung – in neun Fragen an den RAF-Experten Wolfgang Kraushaar.
In Filmen, Songtexten, Literatur, Werbung und Mode wird die RAF bis heute romantisiert. Warum fasziniert die RAF immer noch?
Es scheint vor allem die Lust am Abenteuer und die Bewunderung für das Existenzielle – den Kampf auf Leben und Tod – zu sein, die hier anziehend wirken. Dafür sind dieselben Mechanismen ausschlaggebend, die auch für einen Actionfilm gelten. Wenn in der Verfilmung von Austs „Baader Meinhof Komplex“ etwa zu sehen ist, wie Andreas Baader nachts aus einem fahrenden Wagen heraus wild durch die Gegend ballert, dann wird in dieser Szene das so überaus hohle Faszinosum auf den Punkt gebracht. Ich verstehe allerdings nicht: Was soll „cool“ daran sein, Angst und Schrecken zu verbreiten, Banken zu überfallen, Leute zu entführen und sogar umzubringen?
Man unterscheidet zwischen der ersten, zweiten und dritten Generation. Was waren die unterschiedlichen Motive der drei?
Die erste Generation mit ihren Anschlägen auf US-amerikanische Militäreinrichtungen wollte vor allem den Vietnamkrieg sabotieren, die zweite durch Entführungsaktionen ihre eigenen Leute aus den Gefängnissen herausholen und die dritte mit ihren Mordanschlägen auf die Repräsentanten bestimmter Funktionseliten eine weitgehend imaginäre „antiimperialistische Front“ stärken.
Die Juden seien ermordet worden „als das, als was man sie ausgab – als Geldjuden“, sagte Meinhof einmal über den Holocaust. Wie antisemitisch war die RAF?
Das Kapitel „bewaffneter Kampf“ hat in der Bundesrepublik Deutschland bezeichnenderweise mit einem Bombenanschlag auf das Jüdische Gemeindehaus begonnen, und das am 9. November 1969 bei einer Gedenkfeier für die Opfer der sogenannten Reichskristallnacht. Die Täter stammten aus einer Vorläuferorganisation, den Tupamaros Westberlin. Sie waren zuvor ebenso wie die RAF von den Palästinensern an Waffen und Sprengstoff ausgebildet worden. Ohne diese antiisraelische Kooperation – zunächst mit der Fatah, später dann mit der PFLP – wäre keine der hiesigen Untergrundgruppierungen überhaupt aktionsfähig gewesen. Als dann 1972 Ulrike Meinhof und Horst Mahler den Überfall des „Schwarzen Septembers“ auf die israelische Olympiamannschaft als antiimperialistische Tat hochjubelten, war klar, dass die RAF-Spitze in ihrem Hass auf den jüdischen Staat Israel keine Hemmungen mehr besaß.
Wie lässt sich der erstaunlich hohe Anteil von Frauen in der RAF erklären?
69, ist Politikwissenschaftler und arbeitet bei der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur. Kürzlich ist sein Buch „Die blinden Flecken der RAF“ erschienen.
Über die Frage, warum der weibliche Anteil in der RAF weitaus größer als in jeder anderen vergleichbaren terroristischen Organisation war, ist schon vor vierzig Jahren lange gerätselt und sehr viel Unsinn verbreitet worden. Für die einen war die „Emanzipation der Frau“ daran schuld, für die anderen ein ungezügelter Sexualtrieb. Doch bis heute wartet man noch auf eine plausible Erklärung. Das Rätsel „RAF-Terroristin“ ist geblieben.
Der Deutsche Herbst war eine Zerreißprobe für den Rechtsstaat Deutschland. Hat er ihn bestanden?
Schon vor zwanzig Jahren war von einem prominenten Schriftsteller die These vertreten worden, die Bundesrepublik habe im Deutschen Herbst eine Art zivilisierendes Bad erfahren. Dem Rechtsstaat sei, wie der spätere Büchner-Preisträger Friedrich Christian Delius damals feststellte, daraus „ein neues Staatsgefühl und Selbstbewusstsein“ erwachsen. Darin bestünde die „tiefere Vernunft des Jahres 1977“. Dieses Modell jedoch trägt Züge eines Selbstbetrugs. Gegen eine „Läuterung“ spricht eine Reihe von Indizien. Der Staat hat etwa das damals im Eilmarsch durchgepaukte Kontaktsperregesetz nur etwas abgemildert, nicht aber wieder zurückgenommen.
Welche Morde sind bis heute noch nicht aufgeklärt?
Zunächst einmal die ganze Serie der von der dritten RAF-Generation zwischen 1985 und 1991 verübten Morde an Manager Ernst Zimmermann, an Siemens-Vorstand Karl-Heinz Beckurts, am Spitzenbeamten Gerold von Braunmühl, an Deutsche-Bank-Vorstand Alfred Herrhausen und an Treuhand-Chef Detlev Karsten Rohwedder. Hier tappt man nach wie vor im Dunkeln. Dann gibt es aber auch noch eine ganze Reihe zuvor verübter Mordtaten, die eigentlich nur nach Paragraf 129a wegen der Zugehörigkeit zu einer terroristischen Vereinigung, aber – wie etwa im Fall des erschossenen Generalbundesanwalts Siegfried Buback – nicht wegen eines seitens des jeweiligen Gerichts erfolgten konkreten Tatnachweises zu Verurteilungen geführt haben. Auch im Fall des im Oktober 1977 ermordeten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer ist bis heute ungeklärt, wer ihn nach der Befreiung der „Landshut“-erschossen hat. Auch die Hoffnung, dass sich mit der Verfolgung von DNA-Spuren im Nachhinein Licht in derartige Fälle bringen lassen würde, hat sich nicht wirklich erfüllt. Zum Teil auch deshalb nicht, weil – wie etwa im Falle Buback – die in Asservatenkammern vorhandenen und vielleicht noch verwertbaren Spuren längst beseitigt worden waren.
Warum weiß man bis heute kaum etwas darüber, was in den kleinen und großen Krisenstäben im Bundeskanzleramt besprochen und vereinbart wurde?
Weil es im Bundesarchiv besondere Sperrfristen gibt, bei denen man nur zu rasch daran denkt, dass es hier um den Schutz von Staatsgeheimnissen gehen müsse. Ich vermute jedoch, dass die Enttäuschung groß wäre, wenn der Einblick in diese Akten plötzlich freigegeben würde. Denn es gibt eine Historikerin, die sie vor einigen Jahren im Auftrag des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt durchgesehen hat. Da sie für diese Aufgabe zuvor natürlich zum Stillschweigen verdonnert worden war, konnte sie ihr Wissen nicht weitergeben. Sie hat jedoch mir gegenüber versichert, dass man sich nicht viel davon versprechen dürfe. Andererseits muss man aber wohl davon ausgehen, dass man kein Mitglied der damaligen Krisenstäbe nachträglich kompromittieren wollte. Schmidt hatte sie ja in den aufgewühlten 44 Tagen der Schleyer-Entführung bekanntlich dazu aufgefordert, auch abenteuerliche Lösungsvorschläge der Geiselkrise zu unterbreiten. Und dabei soll es zu Ideen wie der gekommen sein, so lange stündlich ein RAF-Mitglied zu erschießen, bis Schleyer schließlich freigelassen worden wäre. Aus diesem Grund dürften diese Akten erst dann geöffnet werden, wenn keiner der Betreffenden mehr unter den Lebenden weilt.
Haben die früheren RAF-Leute ein moralisches Recht, über ihre Aktionen zu schweigen?
Es gibt keine moralischen Rechte. Die Moral als solche hat nichts mit einem verbrieften Recht zu tun. Die Ehemaligen haben aber das formale Recht zu schweigen. Es wird ihnen ironischerweise gerade von jenem Staat garantiert, den sie am liebsten in Grund und Boden gebombt hätten. In einem Rechtsstaat kann sie niemand zwingen, etwas preiszugeben.
RAF-Mitglieder erklären heute den bewaffneten Kampf für gescheitert, bezeichnen aber den „Aufbruch“ als gerechtfertigt. Ist das nachvollziehbar?
Nein, das ist Selbstbetrug. Die im Nachhinein von Karl-Heinz Dellwo ausgegebene Parole lautete: „Rebellion ist gerechtfertigt“. Doch der RAF-Terrorismus war alles andere als ein rebellischer Akt. Für die einen war er mörderisch, für die anderen wurde er selbstzerstörerisch. Wer meint, sich an dieser bitteren Wahrheit vorbeimogeln zu können, ist noch immer nicht in der Wirklichkeit angekommen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit