Politikverdrossenheit in Japan: Nichts ändert sich, jemals

Politisches Interesse ist in Japan Mangelware. Das geht so weit, dass ein Rechtspopulist gegen Migration schimpfen kann – und es niemanden juckt.

Vereinzelt Menschen gehen über Zebrastreifen auf der Straße

„Alle schauen nur auf sich selbst und ihre eigenen Probleme“ Foto: Zuma Wire/imago

„Demos bringen nichts. Dadurch ändert sich eh nichts.“

Es ist das zweite Mal in Folge, dass ich diesen Satz höre. An einem Tag allein. Ich hörte ihn einmal morgens, als ich für einen Artikel mit einem Interviewpartner sprach. Dann hörte ich denselben Satz noch mal am Abend, als ich mit einem Freund über das Gespräch vom Morgen diskutierte.

Dass eine Person, mit der ich nur wegen meiner Arbeit Kontakt aufgenommen habe, eine protestkritische Haltung einnimmt, wundert mich nicht. Aber dass ein guter Freund dieselbe Meinung vertritt, ist frustrierend. Vor allem, weil es nicht stimmt. Denke ich jedenfalls.

In Japan hingegen haben die beiden Männer nicht ganz unrecht. So frustrierend es ist, zünden globale Bewegungen wie Fridays for Future, Black Lives Matter oder #MeToo in Japan nicht mal eine Kerze. Ganz gleich, mit was für einer Wucht die Proteste global für Aufschrei sorgen – in Japan knallen sie an eine Wand und bleiben anschließend reglos liegen, gleich einem Squashball. Als sei das nicht schlimm genug, werden Demonstrationen gar als gruselig oder als Ruhestörung empfunden. Das gilt sowohl für linke als auch für rechte Proteste.

Dumm, wer Aufarbeitung betreibt

Deshalb können Rechtspopulisten mit ihrem Wagen mit lauter Japan-Flaggen und riesigen Lautsprechanlagen vor dem belebten Ueno-Bahnhof in Tokio stehen und schreien, was sie wollen – es wird niemand kommen und zu einem Gegenprotest aufrufen. Keine Studierenden, die mit Trillerpfeifen den Wagen verjagen. Keine Polizei, die dazwischengehen muss.

Der Mann, der das Mikrofon hält, kann während seiner Rede Deutschland verspotten, weil es sich mit den eigenen Naziverbrechen auseinandersetzt. Er wird anschließend sagen, dass das für Japan niemals gelten darf, weil hierzulande heldenhafte Soldaten gestorben sind, die zum heutigen Wohlstand beigetragen haben. Die Verbrechen, die Japan während des Zweiten Weltkriegs begangen hat – von der sogenannten Trostfrauenproblematik bis hin zum Nanking-Massaker und den Experimenten an Menschen in Harbin –, gehören indes nicht in japanische Schulbücher.

Passant:innen, die an einem solchen Wagen vorbeilaufen, schauen vielleicht kurz auf. Manche hören eventuell mit einem halben Ohr zu. Aber sobald die Ampel auf Grün schaltet, laufen sie weiter. Dasselbe gilt für linke Proteste.

Jede ist ihres Unglücks Schmied

Die Gleichgültigkeit, mit der die japanische Gesellschaft an solchen Aussagen vorbeischreitet, zeigt die Politikverdrossenheit der Menschen. Probleme wie Burnout, Armut oder Sexismus, mit denen sie sich im Alltag rumschlagen müssen, ist nicht Sache der Politik, sondern von Individuen. Halte durch, denn alle halten durch. Bist du unzufrieden, ändere dein Leben – oder deine Einstellung.

Bei der diesjährigen Oberhauswahl am 10. Juli betrug die Wahlbeteiligung nur 52,05 Prozent. Zwei Tage, nachdem Abe ermordet wurde. Viele, die sich nicht beteiligten, haben schlicht kein Interesse an Politik – und kein Vertrauen. Sie sind nicht überzeugt, dass Politiker, zum Großteil alte, japanische Männer, irgendetwas zur Verbesserung ihres Lebens beitragen können.

Bei der nächsten Wahl im Jahr 2025 wird sowieso wieder die rechtskonservative Jimintō (LDP) als Regierungspartei gewählt. Und darin wird ein alter Japaner im Anzug und mit Vetternwirtschaft die Spitze übernehmen. Er wird aber nichts ändern können. Alle schauen nur auf sich selbst und ihre eigenen Probleme. Dass die Probleme alle miteinander verknüpft sind, fällt ihnen nicht auf. Wie auch? Schließlich sind alle still.

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In Tokyo und Hamburg aufgewachsen, Auslandsjahr in Shanghai. Studium in Berlin, Chongqing und Halle. Schreibt seit 2021 für die taz. Kolumnistin des feministischen Magazins an.schläge (Foto: Hella Wittenberg)

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