piwik no script img

Polen will Asylrecht aussetzenSymptomatisch und nicht überraschend

Christian Jakob
Kommentar von Christian Jakob

Polens Regierungschef Tusk plant, das Asylrecht zeitweilig auszusetzen. Damit reiht er sich ein in die Riege derer, die das schon lange wollen.

Für viele überraschend: Polens Regierungschef Tusk plant, das Asylrecht zeitweilig auszusetzen Foto: Marcin Obara/dpa

A usgerechnet der? Der liberale, proeuropäische Donald Tusk? Ungläubig reagierten viele auf die jüngste Ankündigung der polnischen Regierung, das Asylrecht „vorübergehend“ auszusetzen. Dabei hatten Aktivist:innen, die die Lage an der polnisch-belarussischen Grenze beobachten, schon länger Ernüchterndes berichtet: Auch nach der Abwahl der PiS änderte sich im Umgang mit den Menschenrechten in Polen für Ankommende nichts. Und es war Regierungschef Tusk, der direkt nach der Beschlussfassung zum neuen EU-Asylsystem Geas Ende 2023 ankündigte, sich an die Geas-Passagen, die ihm nicht passten, nicht zu halten.

taz.de mit neuem Layout

Hier sieht alles ungewohnt aus? Stimmt, seit Dienstag, 15.10.2024, hat die taz im Netz einen rundum erneuerten Auftritt. Damit stärken wir, was die taz seit Jahrzehnten auszeichnet: Themen setzen und laut sein. Alles zum Relaunch von taz.de, der Idee dahinter und der Umsetzung konkret lesen Sie hier.

Bekanntermaßen ist Polen hinsichtlich der ankommenden Geflüchteten – Ukrai­ne­r:in­nen ausgenommen – in einer vergleichsweise passablen Lage. Die Zahlen sind seit jeher im EU-Vergleich äußerst niedrig. Daran hat auch die Schleusungs-Offensive von Putin und Lukaschenko über Belarus ab Herbst 2021 nichts geändert.

Tusks Schritt ist ein symptomatisches Verhalten für die Parteien der Mitte in diesen Tagen: Der Wunsch nach Asyl-Verschärfungen findet kein Ende, auch wenn die Zahlen stark sinken – wie hierzulande – oder schon sehr niedrig sind, wie in Polen. Nur folgerichtig war da, dass auch die Union sogleich größtes Verständnis für Tusks Pläne äußerte. Besonders absurd ist dabei, dass Polens Maßnahme sich gegen „instrumentalisierte“ Flüchtende richtet, die über Belarus ankommen. Für solche Fälle sieht das 2023 beschlossene Asylsystem Geas eigene Sonderklauseln vor. Doch die reichen heute auch den Scharfmachern nicht mehr, die sie einst selbst reinverhandelt haben, sie setzen das Asylrecht lieber gleich komplett aus.

Auf die EU-Kommission, die solche offenkundigen Verstöße gegen EU-Normen eigentlich unterbinden müsste, braucht niemand zu hoffen. Wenn es um Migration und Asyl geht, hat sie in der Vergangenheit – von wenigen Ausnahmen abgesehen – de facto alles toleriert, was den Mitgliedstaaten eingefallen ist, um sich Flüchtlinge rechtswidrig vom Hals zu halten.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Christian Jakob
Reportage & Recherche
Seit 2006 bei der taz, zuerst bei der taz Nord in Bremen, seit 2014 im Ressort Reportage und Recherche. Im Ch. Links Verlag erschien von ihm im September 2023 "Endzeit. Die neue Angst vor dem Untergang und der Kampf um unsere Zukunft". 2022 und 2019 gab er den Atlas der Migration der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit heraus. Zuvor schrieb er "Die Bleibenden", eine Geschichte der Flüchtlingsbewegung, "Diktatoren als Türsteher" (mit Simone Schlindwein) und "Angriff auf Europa" (mit M. Gürgen, P. Hecht. S. am Orde und N. Horaczek); alle erschienen im Ch. Links Verlag. Seit 2018 ist er Autor des Atlas der Zivilgesellschaft von Brot für die Welt. 2020/'21 war er als Stipendiat am Max Planck Institut für Völkerrecht in Heidelberg. Auf Bluesky: chrjkb.bsky.social
Mehr zum Thema

13 Kommentare

 / 
Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Warum geht in diesen Artikeln eigentlich immer unter, dass Polen so viele Ukrainische Flüchtlinge aufgenommen hat, wie kein anderes Land?



    Es geht Polen hier doch ganz eindeutig um eine bestimmte Gruppe von Flüchtlingen.

    • @Bernd Lauert:

      "Es geht Polen hier doch ganz eindeutig um eine bestimmte Gruppe von Flüchtlingen."



      Sprechen Sie's doch ruhig aus. Was für eine Gruppe ist Ihrer Ansicht nach die Zielgruppe?

  • Polen hat sich hinsichtlich ukrainischer Flüchtlinge absolut hervor getan. Das wird hier leider nur in einem Nebensatz erwähnt.

  • Natürlich packt die EU-Kommission dieses Thema nicht an.

    Sie weiß, sie würde damit die EU sprengen.

    Das Grundproblem ist nun mal, dass viele die Gesellschaften in Deutschland, Schweden, Italien oder Frankreich mit ihren hohen Zahlen von Flüchtlingen und Migranten von anderen Kontinenten nicht als ein Vorbild erleben, dem sie nacheifern wollen.

    Hätten die westeuropäischen Staaten ein besseres Management, würde es sich vermutlich anders verhalten.

    So muss auch ein liberaler Regierungschef sich nach seinen Wählern richten.

  • Es werden in der Diskussion oft die Augen davor verschlossen, dass wir es hier mit zwei verschiedenen Gruppen zu tun haben. Einmal mit den politischen Flüchtlingen und zum Andern mit Arbeitsmigranten. Es wird hier oft "moralisch" argumentiert. Nur, wenn man Menschen aufnimmt, dann muss dies unter menschenwürdigen Bedingungen geschehen. Es gibt viele Probleme in Bezug auf Wohnraum, soziale und oft psychologische (Kriegstraumata) Unterstützung. Bei Familien müssen z.B. Kita-Plätze zur Verfügung stehen. Um hier arbeiten zu können, muss die deutsche Sprache beherrscht werden, sonst bleibt nur entweder als Uber-Sklave oder Schlimmeres arbeiten zu müssen. .. usw .. Ist es da nicht eine moralische, ich wiederhole eine MORALISCHE Pflicht zu sagen: 1. die politischen Flüchtlinge WOLLEN wir aufnehmen (Grundgesetz) , 2. aber bei denjenigen, die aus den verschiedensten Gründen - die meistens nicht zu verurteilen sind und für die man Verständnis haben kann/muss, nach Europa kommen um hier wie auch immer Geld zu verdienen, müssen wir sagen : wir können nur eine bestimmte Zahl aufnehmen. Das ist eine moralische Verantwortung gegenüber diesen Menschen.

    • @Stumm Roland:

      Aha, es gibt Arbeitsmigration nach Europa? Echt? Und wo?



      Mit Ausnahme hochqualifizierter akademischer Fachkräfte, die von Unis oder Arbeitnehmern angeworben werden, oder Zuwanderung aus einigen wenigen handverlesenen Ländern (mit überwiegend weißer Bevölkerung übrigens) gibt es kaum legale Wege zur Arbeitsmigration in die EU. Und genau da liegt das Has' im Pfeffer: Migration wird in weiten Teilen kriminalisiert, zumindest wenn es um die Migration aus Afrika, Arabien ... geht. Legale Wege in die EU werden nicht bzw. kaum ausgebaut.



      Wenn Sie also z.B. aus dem Senegal in die EU wollen, bleibt Ihnen fast nur der illegale Weg. Und am Ende dieses Weges haben Sie nur Aussicht auf Erfolg, wenn Sie das Zauberwort "Asyl" sagen.



      So lange das so ist, wird man immer Probleme mit dem Asylsystem haben. Und haben Sie den Eindruck, dass man das ändern will? Ich nicht.

    • @Stumm Roland:

      Und dennoch wird einzelne Individuen nichts davor retten schwere psychische Erkrankungen zu kultivieren, die in Eskalationen münden können. Wir sind eben keine Willkommensgesellschaft, wir erwarten, dass die sich selbst willkommen heißen und integrieren, nur bitte nicht bei uns vorder Tür. Wir haben schon genug Freunde.

  • Das sind die Auswirkungen einer restriktiven Asylpolitik der einzelnen Nationalstaaten. Seit den deutschen Grenzkontrollen ist die Zahl der Asylanträge in Polen erheblich gestiegen. Dieses war abzusehen, ebenso wie die Reaktion der Polen jetzt.

    Auf zwei wichtige Punkte geht der Autor leider nicht ein. Zum einen will Polen keine internationalen Abkommen wie die Flüchtlingskonvention aufkündigen, sondern das Asylrecht temporär und stationär aufheben, sofern die Sicherheit bzw Ordnung des Staates bedroht ist. Diese Regelung gibt es auch im deutschen Recht und deren Anwendung wurde erst jüngst von Friedrich Merz gefordert.

    Zum anderen blendet der Artikel aus, dass Polens Konzept hinsichtlich der Integration erheblich progressiver ausgestaltet ist als das unsere.

    Landesweit wurden in kürzester Zeit fast 50 Integrationszenter errichtet, die Integrationskurse für Migranten, ohne Wartelisten, durchführen. Zusätzlich gab es eine Anhebung der monatlichen Sätze etc. Das polnische Konzept ist auf schnelle Eingliederung in den Arbeitsmarkt ausgerichtet und dafür bedarf es einer Steuerung der Anzahl. Ansonsten.. siehe Deutschland.

    • @Sam Spade:

      "...das Asylrecht temporär und stationär aufheben, sofern die Sicherheit bzw Ordnung des Staates bedroht ist. "



      Nur temporär bedeutet bei der seit Jahren herbeigeredeten Dauerkrise wie lange genau? Bis es keine mehr gibt?



      "...deren Anwendung wurde erst jüngst von Friedrich Merz gefordert."



      Und das ist jetzt ein Gütesiegel? Wir sind wirklich weit gekommen.

      Ich halte das für ein ganz schlechtes Zeichen für die Zukunft und bleibe skeptisch.

      • @Encantado:

        Guter Wille allein reicht leider nicht. Es nutzt niemanden, wenn sich in den hiesigen Notunterkünften die Menschen "stapeln", ohne Aufgabe, mit Wartezeit auf einen Integrationskurs von 6-12 Wochen. Ich war im Sommer bei einem Seminar in Danzig, da wurde das Thema auch behandelt. Die Polen haben sehr genau die deutschen Zustände analysiert und den Schluß gezogen, dass sie genau diese nicht im Lande haben möchten. Daher setzen sie auf ein Konzept von dem beide Seiten profitieren sollen. Schnelle Eingliederung und damit Entlastung der Sozialsysteme. Und dafür ist die Grundvoraussetzung nunmal eine gezielte Steuerung, ansonsten sind die Kapazitäten nicht mehr gegeben. Aus meiner Sicht ein zukunftsfähiger Ansatz.

        • @Sam Spade:

          Das mag alles stimmen. Für mich stellt sich aber die Frage, ob der Vorstoß von Herrn Tusk sachlich gerechtfertigt ist. Zu Deutsch: gibt es irgendeinen Anlass, die temporäre Aussetzung des Asylrechts genau jetzt anzukündigen?

          Ich werde den Eindruck nicht los, dass Europas Konservative die Gunst der Stunde nutzen wollen, um eine Agenda durchzudrücken, die schon jahrelang in den Schubladen lag -- bzw. auf die sie jahrelang hingearbeitet haben. Gibt es in Deutschland etwa einen Notstand? Es gibt eine überlastete Verwaltung, was durch Stellenabbau in den relevanten Ämtern und Behörden geradezu provoziert wurde. Bestes Beispiel: Das BAfM. Und aus welcher Partei kamen die Bundesinnenminister der letzten Jahre. Mit Ausnahme von Frau Fazer ... You name it!

          V.a. gilt das ja nicht nur für den Migrationsbereich. Streichung der Förderung soziokultureller Einrichtungen, Propaganda gegen Wokeness, Genderverbote, Verbrenner-Aus-Aus ... Es passt halt alles irgendwie ins Bild.

          • @Libuzzi:

            Der Anlass liegt auf der Hand. Steigene Asylzahlen dank deutscher Grenzkontrollen. Eine Notstandserklärung hätte, wie ggf in Deutschland auch, nur eine Alibifunktion.

            An einer Agenda der europäischen Rechtskonservativen ist sicherlich etwas dran, werden ja auch bereits fleißig in Brüssel Bündnisse geschmiedet und das nicht nur mit dem Ziel Festung Europa sondern auch hinsichtlich Remigration in Länder jenseits des Kontinents.

    • @Sam Spade:

      Danke für Ihre Ergänzungen. Die haben mir ebenfalls gefehlt.

      Genau so wie eine Verurteilung von Russland/Belarus. Polen wird angeprangert, wo es doch diese beiden Schurkenstaaten sind die systematisch Flüchtlinge nach Belarus fliegen um diese von dort in die EU sprichwörtlich zu peitschen.

      Es ist ja keine konventionelle Flüchtlingsroute, ausser vielleicht für politisch Verfolgte aus den beiden genannten Staaten.