Podiumsdiskussion zu 70 Jahre documenta: Kunst kann höchstens die Art des Gesprächs ändern
Beim Fest zum 70-jährigen Jubiläum der documenta gab es eine Podiumsdiskussion in Kassel mit den Kuratoren der letzten Ausgaben. Aber etwas fehlte.

Es wird durchgelüftet in Kassel, an diesem Festabend zum 70-jährigen Jubiläum der documenta. Nach drei Jahren Zerreißprobe infolge der chaotischen Ausgabe 15 mit ihren politischen Verfehlungen unter dem Kurator:innenkollektiv ruangrupa, nach den Zerwürfnissen des Kunstbetriebs seit dem 7. Oktober 2023, seit der Rechtspopulismus der liberalen Kulturszene den Kampf angesagt hat. In diesen „garstigen Zeiten“, wie es der Direktor des Fridericianum, Moritz Wesseler, bei seiner Rede meinte, wird jetzt einfach mal über alle Garstigkeit hinweggefeiert. Wie gut.
Noch bevor LéLé Cocoon zum Tanz verführte, kamen zu einer Podiumsdiskussion die künstlerischen Leiter:innen der Ausgaben von 2007, 2012 und 2017, Roger M. Buergel, Carolyn Christov-Bakargiev und Adam Szymczyk, sowie die Kuratorin der kommenden documenta, die US-Amerikanerin Naomi Beckwith, zusammen. Der Saal war voll, als die vier über „das große wilde Ding“ dieser Weltkunstschau sprachen, wie die Moderation einleitete. Was sie in ihren 70 Jahren geworden ist und sein kann.
Ein Ort „des Jetzt“, in den sich viele Ideologien einspeisten, so Szymczyk, keineswegs eine Institution, „die immer das Gleiche wiederhole“, meinte Christov-Bakargiev, ein „Rahmenwerk“ für eine Kunst in vielen Ausdrucksformen, sieht es Beckwith. So redeten sie, zeigten ihre Lieblingsbilder aus Kassel: Eine einsame Mohnblume auf dem Friedrichsplatz, vermutlich ein Überbleibsel von Sanja Ivecovics Blumenfeld der documenta 2007, Pierre Huyghes Windhund mit rosa Bein auf einem Kompostplatz der Karlsaue von 2012. Es sind auch ikonische Bilder der jüngeren documenta-Geschichte.
ruangrupa war nicht gekommen
Doch etwas fehlte: ruangrupa und ihre umstrittene documenta fifteen. Erst sehr spät kam man auch darauf zu sprechen. Adam Szymczyk wurde wütend, meinte, die Medien hätten zur Verdummung der Debatte beigetragen. Man dürfe doch die Kunst nicht so ernst nehmen, lehnte sich Christov-Bakargiev zurück, eine demokratische Gesellschaft müsse solch einen Stresstest bestehen. Hätte man also das Protestbanner von Taring Padi mit den antisemitischen Symbolen nicht abhängen, sondern vielmehr öffentlich diskutieren sollen?
Bis zu solch einer Frage kam man gar nicht erst. Auch nicht, wie man damit umgehen soll, wenn Kunst in Propaganda umschlägt, wenn ihr Spekulatives, Offenes, Nachdenkliches, das hier vorher von allen beschworen wurde, in Feindbilder umkippt. Vielleicht mag es daran liegen, dass alle vier Anwesenden dann doch sehr klassische Kurator:innen sind und auch ein sehr klassisches Verständnis von Kunst zu vertreten scheinen, bei der selbst politische Anliegen immer durch den Filter der Ästhetik und der klaren Autor:innenschaft gehen.
Das war anders bei ruangrupa. Die hatten 2022 in einem eigentlich kühnen Großprojekt den gemeinschaftlichen Prozess und soziales Agieren mit ihren 1.500 Gästen in den Vordergrund gerückt. Die Grenze zum politischen Handeln war da nicht mehr weit. Doch Kunst könne höchstens ändern, wie über etwas gesprochen wird, klärte Adam Szymszek ab. Was hätten ruangrupa wohl erwidert? Man hätte es gerne gehört. Sie waren nach Kassel eingeladen worden, wollten aber nicht kommen.
Stattdessen sind noch die Spuren ihrer documenta in der Stadt sichtbar. Wenn man sich dann viel später abends von den Bässen LéLé Cocoons wieder lösen kann, kommt man auch am ruru-Haus vorbei. Jenes Nackriegskaufhaus, das ruangrupa zum offenen Wohnzimmer, zum Ort des kreativen Abhängens erklärt hatten. Es steht seither leer, die Fassadenbemalung ist noch da. Jetzt soll es zum Kulturzentrum der Stadt Kassel werden.
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