Plädoyer für die Ukraine: Der Tod des Anderen
Welchen Wert hat der Slogan „Nie wieder!“ – was ist damit gemeint? Und was heißt es, der Logik von Krieg und Vernichtung nachzugeben? Ein Zwischenruf.
Nie wieder!“ Nach 1945 sind wir mit dieser Mahnung groß geworden. Vielleicht hätte sie unser Gesetz werden sollen. Daran erinnern der Kniefall von Willy Brandt im Dezember 1970 Warschau, der eine gewisse Kultur der Nachahmung anstieß, aber auch das Denkmal für die ermordeten Juden Europas von Peter Eisenman in Berlin. Gewiss, die politische Welt sah nach dem Zweiten Weltkrieg weit entfernt von dem aus, was ein „Nie wieder!“ je hätte sein sollen. Es war eine Zeit des Kalten Krieges, aber es war auch die Zeit „heißer“ Kriege.
Es gab den Koreakrieg, 1950-53. Nach und nach flammten Befreiungskämpfe gegen die europäischen Kolonialmächte auf. Die gegen den Vietnamkrieg entstandene Friedensbewegung machte „Nie wieder!“ zu ihrem Slogan. Allerdings muss zu all dem gesagt werden, dass nie klar war, worauf sich „Nie wieder!“ bezog. Sollte es sich auf die vielen Kriege beziehen, wie es die Friedensbewegung forderte. Sollte es sich auf Faschismus beziehen, dessen Bewegungen noch Länder wie Spanien, Portugal und Griechenland in der Gewalt hatten. Oder sollte es sich auf den Holocaust beziehen, dessen grausame Umsetzung sich nicht wiederholen durfte.
Dass wir weit von dem entfernt sind, worauf sich „Nie wieder!“ beziehen könnte, zeigt schon die Statistik, die 29 Kriege allein für 2020 verzeichnet. Was heißt es, dieser Logik von Krieg, Terror und Vernichtung nachzugeben? Für alle, die in diesen Kategorien von Sein und Tod sowie Freundschaft und Feindschaft denken, hat der Jurist Carl Schmitt Sätze gefunden, die diese Logik des Kampfes ausformulieren. Er schrieb: „Wen kann ich überhaupt als meinen Feind anerkennen? Offenbar nur den, der mich in Frage stellen kann.“
Freund-Feind-Schema
Schnell wird klar, dass die Spannung zwischen Freund und Feind, von der er sprach, die für ihn die ganze „Weltgeschichte in Bewegung“ hielt, nur darauf beruht, dass sich ein souveränes beziehungsweise politisches Ich auf sein Dasein fixiert und jede Infragestellung seiner Instanz als Kriegszustand wahrnimmt. Von dieser politischen Pathologie glaubten wir uns verabschiedet zu haben. Ohne Grund. Schon im Jahr 1994 rückten wir unsere Sessel vor den Fernsehgeräten zurecht und diskutierten fehlende Optionen, um zu handeln, damit ein Völkermord in Ruanda vermieden werden kann.
Ralf Rother lebt als freier Schriftsteller in Wien.
1995 wiederholte sich das Phänomen. Mit Freunden beobachteten wir die Vorbereitungen der Massaker in Srebrenica und dann in Sarajevo. Wieder wurde alles im TV übertragen. Wir dachten in unserer Naivität, es bräuchte nur ein Flugzeug, von all den tausenden Maschinen, die in der EU herumstanden. Aber es stieg kein Mensch in eine dieser Maschinen ein. Vermutlich hätte wirklich ein Flugzeug gereicht. Jetzt – über 20 Jahre und viele Kriege später – sitzen wir wieder vor den Empfangsgeräten.
Wieder ein Krieg, wieder ein Völkermord mit Ansage. Werden wir wieder zuschauen bis die Ukraine nicht existiert? Und dann abdrehen und uns fragen: In welchem Moment hätten wir etwas anders machen sollen. Und Mariupol? Drehen wir den Gashahn erst ab, wenn Kiew fällt? Oder erst, wenn taktische Atomwaffen eingesetzt werden? „Nie wieder!“ Wann hätte das „Nie wieder!“ kommen müssen? Wann hätten wir handeln müssen, damit ein „Nie wieder!“ sich ereignet? Wann hätten wir dieses „Nie wieder!“ zu unserem Gesetz machen sollen?
Warten vor dem Gesetz
Aus einer von Franz Kafkas Geschichten kann man entnehmen, dass die Türen des Gesetzes offenstehen. Sie stehen für uns offen, für jene, die vor ihnen stehen. Auch wenn der Hüter des Gesetzes zwischen uns und den Türen steht. Und der Imperativ des Gesetzes gilt auch für uns, für jene, die nicht durch dessen Türen schreiten. Natürlich können wir uns die Wartezeit vor dem Gesetz mit dem Zählen der Flöhe in unserem Mantel vertreiben.
Ein Gesetz wie das „Nie wieder!“ kann nicht warten. Sonst hieße es „Nie wieder! Nur heute nicht!“ oder auch morgen nicht. Das Gesetz hat seine Dringlichkeit und Unbedingtheit. Es muss Geltung haben. Es wird uns nicht aus der Verantwortung entlassen. Jede Korrelation von Wissen und Sein, von Subjekt und Existenz geht stets von einer Vielzahl von Optionen aus. Bei der Wahl, die richtige aller Welten zu wählen, herrscht Angst. Die einen wählen die Entschlossenheit und visieren eine ihrer Optionen an.
Die anderen wägen die Optionen ab und warten auf den richtigen Zeitpunkt. Letztlich geht es dem Subjekt in seiner Logik aber nur um sich selbst, um seine Selbsterhaltung und seine Selbstausrichtung. Das Subjekt ist Subjektil einer Struktur von Intentionalität, deren Ziel die Erhaltung und Ausrichtung der eigenen Existenz ist.
Der Frage von Sein und Nicht-Sein setzte Emmanuel Levinas die Frage nach Verantwortung entgegen. Während die eine Seite ihre Entschlossenheit gefunden hat und Zielobjekte ins Kreuzfeuer nimmt, sucht die andere Seite ihre beste Option, um größtmöglichen Schaden von sich abzuwenden. Beide Strategien des Selbst verwarf Levinas und machte die Furcht um die Verletzbarkeit und den Tod des Anderen/der Anderen zum Ausgangspunkt menschlicher Handlung.
Die Menschen in der Ukraine haben keine Zeit. „Nie wieder!“ Jetzt!
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