Plädoyer für Gedenktag für Covid-19-Tote: Den Verstorbenen ein Gesicht geben
Abseits von Wirtschaft und Schulen sprechen wir wenig über die bald 20.000 Menschen, die an oder mit Covid-19 verstorben sind. Das muss sich ändern.
Jeden Tag ein Flugzeugabsturz. Dieser Vergleich hilft, eine Vorstellungen davon zu bekommen, wie viele Menschen in Deutschland täglich im Zusammenhang mit dem Coronavirus sterben. Und es muss ein größeres Flugzeugmodell sein, denn der 7-Tage-Mittelwert liegt laut RKI mittlerweile bei 382 Toten pro Tag. Die Zahlen werden zwar regelmäßig bekanntgegeben, doch wir sprechen wenig darüber, was hinter ihnen steckt.
In der aktuellen Berichterstattung dominieren die Proteste der selbst ernannten „Querdenker“, Diskussionen darüber, wie wir Weihnachten feiern können und ob Böllern an Silvester nun Freiheit bedeutet oder einfach unsolidarisch ist. Keine Frage, wenn Woche für Woche Rechtsextreme und andere Demokratiefeinde auf die Straße gehen, müssen wir darüber sprechen. Auch dass Weihnachten und Silvester für viele Relevanz haben, ist in Ordnung. Doch das Verhältnis, worüber wir in dieser Pandemie sprechen, ist aus dem Gleichgewicht geraten.
Für viele ist 2020 ein verlorenes Jahr, doch wir können uns glücklich schätzen, wenn es nur ein Jahr und nicht ein ganzes Leben ist, das wir verlieren. Die Verstorbenen sind Großeltern, Eltern und Kinder, es sind Freund:innen, Geliebte, Bekannte oder Arbeitskolleg:innen. Den Angehörigen sind wir es schuldig, mit ihnen zu trauern. Vielleicht während Sie diesen Text lesen, spätestens aber in den kommenden Tagen, wird Deutschland 20.000 Covid-19-Tote verzeichnen. Doch in der jetzigen Debatte bleibt es eine Statistik, eine gesichtlose Masse. Als Gesellschaft sollten wir Empathie zeigen und den Verstorbenen ein Gesicht geben. Ein Weg dafür wäre ein offizieller nationaler Gedenktag.
Schon Anfang April, am traditionellen Qingming-Fest, dem nationalen Totengedenktag, wurden über eine Milliarde Chines:innen zu einer dreiminütigen Schweigeminute angehalten. In der italienischen Stadt Bergamo fand Ende Juni eine offizielle Gedenkzeremonie statt. Und in den USA hat beispielsweise NBC News die Seite „The Loss“ ins Leben gerufen. Darauf zu sehen sind Gesichter von Verstorbenen. Mit einem Klick auf die Fotos erscheint eine Geschichte oder eine Anekdote über die Person, lose Erinnerungen von Angehörigen.
Auch in Deutschland wurde in Gottesdiensten am Totensonntag an Coronatote gedacht, und eine Initiative der Künstlerin Veronika Radulovic und des Autors Christian Y. Schmidt hat deutschlandweit dazu aufgerufen, Grablichter aufzustellen. Doch es bleiben vereinzelte Aktionen. Wieso wir es, im Gegensatz zu anderen Ländern, bisher nicht geschafft haben, der Toten gemeinsam zu gedenken, ist die eine Frage. Ist es die deutsche Arroganz, aufgrund derer wir noch immer denken, wir seien nicht so schlimm betroffen wie andere und hätten die Pandemie besser im Griff? Ist es der Appell, in einer ohnehin schon angstvollen Zeit nicht noch mehr Panik schüren zu wollen?
Ein Großteil der Deutschen hat das Glück, bisher noch keine Verstorbenen persönlich zu kennen. Doch sind wir wirklich so unsolidarisch, dass wir nicht nach links und rechts gucken können und sehen, dass in diesem Land schon knapp 20.000 Menschen der Pandemie zum Opfer gefallen sind? Vermutlich ist es eine Mischung aus alldem. Doch wichtiger als Gesellschaftsanalysen ist jetzt die Frage, wie ein Gedenken in unserem Land aussehen könnte.
Eine Schweigeminute, eine Trauerrede von Bundeskanzlerin Angela Merkel, aufgestellte Kerzen und Blumen an Tausenden Orten in Deutschland lösen die Trauer der Angehörigen nicht in Luft auf. Doch sie sind ein wichtiges Zeichen des Respekts und des Mitgefühls. Und gleichzeitig ein Gebot, sich weiter an die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus zu halten, um weitere Tote zu vermeiden.
Auch über 2020 hinaus könnte ein Gedenktag helfen. Denn selbst wenn die Pandemie irgendwann nicht mehr unseren Alltag beherrscht, werden wir weiter über Covid-19 sprechen. Dass wir nicht nur über wirtschaftliche Folgen diskutieren, sondern auch dafür sorgen, dass die Covid-19-Toten nicht in einer Statistik verschwinden, ist eine gesellschaftliche Aufgabe, derer wir uns jetzt annehmen sollten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“