: Pflegebedarf auf allen Seiten
PERSONAL Die krebskranke Olivia wird in der Charité behandelt. Ihre Eltern sehen sie dort in besten Händen. Als die Kinderonkologie wegen Personalmangels Betten sperrt, kommen ihnen aber Zweifel. Dabei hat die Klinik vorbildliche Regelungen – in der Theorie
Von Antje Lang-Lendorff
Olivia wäre an diesem Novembertag lieber zu Hause. „Angst“, sagt die Zweijährige, während sie an der Hand ihrer Mutter in die Tagesklinik für krebskranke Kinder auf dem Charité-Campus in Wedding stapft. Ihre Blutwerte sollen überprüft werden, der Arzt will sehen, wie sie die Chemotherapie verträgt. Der Ablauf in der Klinik dauert, auf dem Flur ist es warm. Trotzdem will Olivia weder Mütze noch Jacke ausziehen. So hat sie eher das Gefühl, gleich wieder weg zu können. „Buggy, Hause“, sagt sie.
Natürlich hinterlässt eine Krebsbehandlung mit Operationen, Spritzen und Schmerzen bei einem Kind Spuren. Doch auch Olivias Mutter Barbara Mayer hat inzwischen ein gespaltenes Verhältnis zur Charité. Anfangs war sie froh, Olivia an einem Krankenhaus mit Weltruf behandeln lassen zu können. Dann hat sie den Personalmangel auf der kinderonkologischen Station und dessen Folgen für ihr krankes Kind erlebt. Seitdem hat Barbara Meyer Zweifel: Ist Olivia hier wirklich in besten Händen?
Im Frühjahr hat die Charité einen bemerkenswerten Schritt getan: Die Leitung der Universitätsklinik einigte sich mit der Gewerkschaft Verdi auf verbindliche Personalschlüssel. Sie stimmte dem bundesweit ersten Tarifvertrag zu, der Mindestbesetzungen auf den Stationen vorsieht. So sollten Stress und Überlastung bei Pflegekräften – und damit auch Behandlungsfehler – vermieden werden.
Familie Mayer machte andere Erfahrungen.
Im August wurde bei Olivia, ein Jahr und neun Monate alt, ein seltener Hirntumor gefunden. Bis dahin schien sie völlig gesund, ihren Eltern war nur aufgefallen, dass sie den Kopf schief hielt. Drei Tage nach der Diagnose wurde Olivia an der Charité operiert, der Tumor entfernt. Vor einigen Jahren hätte die Lebenschance ihrer Tochter nur bei 20 Prozent gelegen, erzählt Mayer. Doch auch dank der Forschung an der Charité liege die Überlebensrate inzwischen bei 60 bis 70 Prozent.
Für die Familie änderte sich von heute auf morgen alles. Barbara Mayer arbeitet als Grafikdesignerin. Sie ließ sich krankschreiben und kümmert sich nun rund um die Uhr um Olivia. Deren Bruder wurde im September eingeschult.
Die Operation verlief gut. Damit sich die Krebszellen nicht ausbreiten, bekommt Olivia Chemotherapie. Neun Blöcke soll sie durchlaufen, mit jeweils bis zu drei Wochen Pause dazwischen, in denen sich die Blutwerte stabilisieren sollen. Das muntere, kräftige Mädchen steckte die Behandlung verhältnismäßig gut weg. Ihre Haare fielen aus, andere Nebenwirkungen hielten sich in Grenzen.
Barbara Mayer fühlte sich an der Charité gut aufgehoben. Bis sie Mitte Oktober morgens in der kinderonkologischen Station anrief, der „30i“. Olivias Blutwerte waren gut, sie wollten mit dem vierten Block der Chemotherapie beginnen. Doch am Telefon sagte ihr eine Pflegekraft, dass Olivia heute leider nicht aufgenommen werden könne. Dasselbe wiederholte sich am nächsten Morgen. Und am übernächsten. Mayer verlangte, einen Arzt zu sprechen. Der erklärte die Situation mit Personalnotstand, erzählt sie: Es seien so wenig Pflegekräfte auf der Station, dass neun der 19 Betten gesperrt werden mussten. Erst am fünften Tag konnte Olivia die Chemotherapie fortsetzen.
Barbara Mayer ist davon noch heute geschockt. „Bei meiner Tochter geht es um Leben und Tod. Und dann scheitert die Behandlung an der Organisation des Krankenhauses? Das kann doch nicht sein.“
Die Charité bestätigt, dass es auf der kinderonkologischen Station einen Personalengpass gibt. Im Sommer seien mehrere KollegInnen schwer erkrankt, zwei hätten gekündigt, zwei weitere seien schwanger. „Mit einem Schlag waren sieben Personen weg“, sagt Pflegedirektorin Judith Heepe. Ersatz werde gesucht, doch KinderkrankenpflegerInnen seien schwer zu finden. „Es wird jedes Jahr schwieriger, Pflegekräfte anzuwerben, weil immer weniger in Ausbildung gehen. Wir laufen da in Deutschland auf ein fundamentales Problem zu“, sagt Heepe.
Im Tarifvertrag vom Frühjahr hatte die Charité auch einer Mindestbesetzung der kinderonkologischen Station zugestimmt. Auf der 30i sollen auf eine Pflegekraft nicht mehr als drei Patienten kommen. Um diesen Schlüssel einzuhalten, musste die Kapazität eingeschränkt werden, erklärt die Pflegedirektorin. Nach wie vor seien sieben der 19 Betten gesperrt. Das wird auch noch eine Weile so bleiben: Erst ab Januar sollen wieder genügend PflegerInnen da sein, um den Normalbetrieb zu gewährleisten.
Dass es für Olivias Eltern schwierig gewesen sein muss, auf die Chemotherapie zu warten, räumt Heepe ein. Ein medizinisches Risiko sieht sie damit aber nicht verbunden: „Man hat einen Spielraum von 14 Tagen, in denen man den nächsten Zyklus einer Chemotherapie verabreichen kann.“ Eine Verzögerung um fünf Tage sei medizinisch unbedenklich, das hätte Olivias Eltern besser vermittelt werden müssen. Es komme aus verschiedenen Gründen häufiger vor, dass Behandlungen verschoben würden. Auch der morgendliche Anruf auf der Station sei ein gängiges Verfahren.
Eine Kinderonkologin, die nicht an der Charité tätig ist, bestätigt, dass es bei der Chemotherapie krebskranker Kinder immer wieder zu Verzögerungen kommt, etwa wegen Infektionen. Von einem generell geltenden Spielraum von zwei Wochen will sie aber nicht sprechen: Das hinge vom Einzelfall ab. Sie sagt: „Organisatorische Gründe für die Verschiebung einer Behandlung sollten vermieden werden.“
Für Kalle Kunkel, Gewerkschaftssekretär bei Verdi, hat die Charité zu spät auf die Probleme in der Kinderonkologie reagiert. Er wisse, dass Beschäftigte der betroffenen Station ihre direkte Leitung und die Pflegedienstleitung schon im Juli darauf hingewiesen hätten, dass es eng werden würde. „Wenn der Tarifvertrag umgesetzt wäre, hätte sich die Personalsituation nicht so zugespitzt“, ist Kunkel überzeugt.
Dass die Charité durchaus versucht, neue Pflegekräfte einzustellen, bestätigt auch Kunkel. Den Fachkräftemangel erklärt der Verdi-Vertreter mit der fehlenden Attraktivität des Jobs. Schuld sei nicht zu wenig Geld, sondern die hohe Belastung der PflegerInnen. „Der Beruf ist nicht durchhaltbar“, sagt Kunkel.
Barbara Mayer, Mutter der krebskranken Olivia
Umso wichtiger sei es, für Entlastung zu sorgen – etwa über Regelungen wie im Charité-Tarifvertrag. Der sieht vor, dass keine Patienten aufgenommen werden sollen, wenn zu wenig Pflegekräfte auf einer Station verfügbar sind. Aus Kunkels Sicht hätten auf der Kinderonkologie deshalb schon viel früher Betten gesperrt werden müssen. Dass das nicht im Sinne der Eltern wäre, die mit der nächsten Therapieeinheit beginnen wollen, ist ihm bewusst. „Da gibt es ein Dilemma. Aber eine Behandlung mit zu wenig Personal kann eben auch zu Fehlern führen.“
Ein Vorfall im September. Olivia hatte eine schwere Infektion. Weil auf der 30i kein Bett frei war, legte man sie auf eine andere Station, die nicht zur Kinderonkologie gehört. Olivia hatte zu der Zeit einen Katheter, der als Schlauch aus ihrer Brust kam. Das Pflaster, das den Katheter hielt, musste regelmäßig gewechselt werden. Das sei aber nicht geschehen, erzählt Barbara Mayer. „Auf der Station kannte sich niemand besonders gut mit dem Katheter aus. Mit dem Ergebnis, dass er raus rutschte.“ Die Ärzte der Tagesklinik hätten den Behandlungsfehler bestätigt, erzählt Mayer. Sie konnte kaum glauben, dass Olivia deswegen erneut unter Vollnarkose operiert werden musste.
Dieses Erlebnis erschütterte ihr Vertrauen in die Klinik. „Ich habe das Gefühl: Wenn ich nicht die komplette Zeit die Therapie meiner Tochter überwache und kontrolliere, dass alle Schritte korrekt ausgeführt werden, dann geht sehr viel schief“, sagt sie. Diese Verantwortung will sie eigentlich nicht. „Wir sind als Familie mit der Situation doch sowieso überfordert.“ Sie fragt sich, was anderen Kindern widerfährt, deren Eltern sich nicht so engagieren oder kein Deutsch sprechen.
Pflegedirektorin Heepe weist Mayers Vorwürfe zurück. In der Krankenhausdokumentation sei vermerkt, dass Olivias Pflaster gewechselt wurde. Die Pflegekräfte auf der Station seien sehr wohl mit dem Katheter vertraut. „Er gehört zum Standardrepertoire einer Kinderkrankenschwester“, sagt Heepe.
Doch Barbara Mayer ist nicht allein. Auch andere Eltern beschweren sich. Ein Vater schrieb Ende Oktober auf Facebook einen offenen Brief an die Charité. Er klagte, dass für die Pflege seiner krebskranken Tochter Leasingkräfte eingesetzt würden, die vom Ablauf keine Ahnung hätten. Auch ein anderer Vater berichtet von Fehlern des Personals. Einmal habe eine Pflegerin seinem Sohn ein Narkosemittel vorbereiten wollen, das der gar nicht vertrage: „Wir müssen immer schauen: Bekommt er die richtigen Medikamente, in der richtigen Dosierung?“
Nachdem Beschwerden öffentlich wurden, entschuldigte sich die Charité-Leitung Anfang November in einem Schreiben an die Eltern für die durch den Personalengpass „entstandenen Unannehmlichkeiten“ und lud zum Gesprächskreis, um über die Situation zu reden. Die Klinikleitung will den Eltern in Zukunft regelmäßig Treffen anbieten, um sich über Probleme frühzeitig auszutauschen.
Bei Olivias Untersuchungstermin in der Tagesklinik bestärken mehrere Beschäftigte der Charité Barbara Mayer in ihrem Engagement. „Gut, dass mal jemand an die Öffentlichkeit gegangen ist. Die Schwestern erzählen das ja auch“, sagt eine. Eine andere wendet sich an Olivia: „Du hast eine ganz mutige Mama.“
Olivia zieht schließlich doch noch Jacke und Mütze aus. Als ein Arzt sie untersuchen will, wehrt sie sich, schreit. Und lässt es dann doch über sich ergehen. Draußen im Kinderwagen schläft sie sofort ein.
Eine Woche später beginnt Olivias fünfter Block der Chemotherapie. Dieses Mal bekommen die Mayers sofort ein Bett auf der Station 30i, ohne jede Verzögerung. Olivia verträgt die Therapie. Den Umständen entsprechend geht es ihr gut.
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