Performance „Do's & Don'ts“: Roadtrip durchs Regelland

Beim Hamburger Kampnagel-Sommerfestival lädt das Theater-Kollektiv Rimini Protokoll zur Fahrt durch die Stadt in einem umgebauten LKW.

Der umgebaute LKW der Theater-Performance und sein Guide stehen unter einer Brücke.

Unterwegs in Hamburg: der Truck und sein Guide Foto: André Wunstorf

HAMBURG taz | Eine verspiegelte Glasfassade trennt das Publikum von der Realität. Der Zuschauerraum befindet sich in einem umgebauten Truck, der durch die Stadt rollt. Die Theatergruppe Rimini Protokoll hat sich diesen Road­trip ausgedacht und mit dem Konzept bereits Berlin und Essen erkundet. Jetzt fahren sie nahezu täglich durch Hamburg, im Rahmen des Sommerfestivals auf Kampnagel.

Früher wurden in dem benutzten Mehrtonner Schweinehälften transportiert, jetzt Menschen, also Theaterzuschauer. Und wie es so ist beim Theater gibt es auch bei dieser „Fahrt nach allen Regeln der Stadt“ ein paar Do’s und Don’ts. „Alle anschnallen, Handys ausschalten und nicht pupsen“, so die Ansage der etwa achtjährigen Shalom Asamoha. Anschließend ist sie per Video- und Tonübertragung aus dem Fahrerhäuschen und auch mal auf dem gegenüberliegenden Gehweg zu erleben. In der Fahrerkabine plaudert sie mit dem Fahrer Rudi Bühne über ihr Leben.

Als der gewichtige Mehrtonner losruckelt und Rudi nicht ohne Berufsstolz von seinen siebeneinhalb Punkten in Flensburg erzählt und von Ampeln, die für ihn maximal die Farbe kirschgrün haben, hält man inne. Und denkt an die vor Kurzem in Hamburg-Eimsbüttel tödlich verunglückte Radfahrerin. Im Mai dieses Jahres wurde sie von einem abbiegenden LKW überrollt.

Mit mulmigem Gefühl sitzt man im Container des Lkw, versucht Rudis Sprüche zu ignorieren und seine Art, so selbst- und siegessicher über dem Verkehr zu thronen. Leidenschaftlicher Jäger ist er obendrein und so richtig sympathisch wird er einem während der Fahrt auch nicht.

So richtig sympathisch wird einem Rudi während der Fahrt nicht. Aber das ist auch nicht sein Job. Er ist, wie die aufgeweckte Shalom und der 16-jährige Oskar, ein „Experte des Alltags“

Aber das ist auch nicht sein Job. Er ist, wie die aufgeweckte Shalom und der charmant rebellische 16-jährige Oskar, der später zusteigt, ein „Experte des Alltags“. Während Rudi, der Lkw- und Verkehrs-Experte, durch die Stadt fährt, steigen Shalom und Oskar aus und wieder zu, erzählen von ihrem Alltag und erklären den Zuschauern ihre Regeln, ihre „Do’s & Don’ts“. Für diese sehr spezielle Art von Laien-Theater ist Rimini Protokoll bekannt.

Von Shalom, die zunächst im Führerhäuschen sitzt, und die behauptet „das ängstlichste Mädchen von ganz Hamburg“ zu sein, hört man, dass sie oft „von der Sonne fällt“, wegen schlechten Betragens im Unterricht, dass sie dann Strafpunkte kassiert und nachsitzen muss. Außerdem hat sie sich mal vor einem raschelnden Busch erschreckt, singt im Chor, glaubt an Gott, mag die Polizei, mag Regeln und Ampeln, eben weil sie sich dann sicherer fühlt.

Auf etwa halber Strecke der Fahrt, irgendwo im Autohaus-Niemandsland kurz vor den Elbbrücken, steigt sie aus und geht ein paar schnelle Schritte zwischen Lagerhäusern, Parkplätzen und dem Bordell „Lusthaus“ entlang. Ängstlich blickt sie in jede Toreinfahrt. Dieser Ausbruch ist ein absolutes „Don’t“ für sie, eine Mutprobe, obwohl der Truck das Mädchen im Schritttempo begleitet.

Kampfmittelbergung im Osten der Stadt

Vom vergessenen Ostteil der Stadt geht es in die Hafencity, wo extrateure Grundstücke in direkter Nachbarschaft zu Containersiedlungen liegen. Dort wird vor Kampfmittelbergung gewarnt, hier stehen Fahrräder am Zaun, hängen Teppiche darüber und spielen Kinder dahinter.

Über weite Strecken ist auf dieser Fahrt die Stadtkulisse selbst die beste Bühne. Hin und wieder aber schiebt sich eine Leinwand vor den Ausblick. Dann werden aufwendige Videos eingespielt, die wenig suggestiv den gewinngeilen Kapitalismus, aalglatte Zukunftsvisionen und den selbstdenkenden Kühlschrank verdammen. Dazu erscheint und ertönt ein Kinderchor mit recht eindimensionale Zeilen wie „Is this the place we will live in – oder doch aufs Land?“ und skandiert „Just Do It“ und „Think Different“.

Shalom muss später aus Thomas Hobbes’ „Leviathan“ zitieren, noch später werden erschreckende Zahlen zu Wohnraum und Räumungsklagen genannt. Auch Fahrer Rudi erzählt, dass er hin und wieder einen Einsatz bei einer Zwangsräumung hat: „Schufa-Eintrag und dann hast Du Pech gehabt.“

Bis 26. August, Mi-Fr 18.30 Uhr, Sa/So 15 + 18.30 Uhr, Treffpunkt: Kampnagel, Probebühne 6A, Hamburg

Als der Truck eine Wasserstofftankstelle passiert, stellt die achtjährige Shalom dem Fahrer dann noch die Dieselfrage. Spätestens jetzt ist der Charme der Authentizität, den viele Rimini-Protokoll-Arbeiten inne haben, verpufft. Jetzt, da die Experten des Alltags keine Experten mehr sind. Jetzt, da der Abend künstlich aufgeblasen wird mit Inhalten und Botschaften zu Stadt- und Verkehrspolitik, zu smarten Utopien und Werbekampagnen. Jetzt wird er ungenau, verliert sich selbst aus den Augen und reckt sich ins Moralisch-Pathetische.

Und doch fährt man weiter mit. Aussteigen ist schließlich ein „Don’t“. Also blickt man angeschnallt auf die „eigene“ Stadt. Betrachtet im Vorbeifahren Jogger, Alster-Segler und Menschen, die picknicken, Dosenbier trinken oder Fotos vom Sonnenuntergang machen. Man sieht Vorhänge zittern, fährt an Villen vorbei, an schäbigen Hotels, an Baubrachen, Ruderclubs, Auktionshäusern und schick frisierten Vorgärten.

Und dann entdeckt man das Mädchen. Das Mädchen, das dort wartet, bis die Ampel von Rot auf Grün springt. Es tanzt. Scheinbar selbstvergessen und als wäre es unbeobachtet, bewegt es sich zum Rhythmus der Musik – die doch tatsächlich nur im Zuschauerraum zu hören ist. Aber das Mädchen tanzt eindeutig dazu. Eine Verkehrsinsel wird zur Bühne und die Fahrt hat sich gelohnt. Der Bildausschnitt lenkt den Blick und die Stadt selbst wird zum Ereignis.

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