Patriotismus an russischen Schulen: Spezialoperation im Klassenzimmer
Schon vor der Invasion der Ukraine stand Patriotismus in Russland auf dem Lehrplan. Doch nun müssen auch Dreijährige der russischen Armee huldigen.
Irgendjemand hat sie aus der Höhe gefilmt, so lässt sich die Aktion, die sich die Kindergartenleitung hat einfallen lassen, besser verkaufen: Die Kleinen formen ein Z. Der lateinische Buchstabe steht im Russland dieser Tage für die Unterstützung der „Spezialoperation“, unter der der Kreml seine Taten in der Ukraine ausführt. Zur Huldigung der russischen Armee müssen selbst Dreijährige antreten. Quer durchs Land.
Der Kulturpalast von Nischni Tagil postete das Video in seinem Instagram-Account. Eigentlich ist Instagram in Russland mittlerweile verboten. Bildungseinrichtungen veröffentlichen auf ihren Internetseiten und in den sozialen Medien „Reporte“, wie sie die Anforderungen des Bildungsministeriums – in Russland Aufklärungsministerium genannt – umsetzen.
Im Kindergarten Nummer 2 in Kalininsk in der Region Saratow haben die Erzieher*innen zwölf Kinder in zwei Reihen hingesetzt und jedem von ihnen ein DIN-A4-Blatt mit einem orange-schwarzen Z in die Hand gedrückt. In Nowowoskresenka bei Nowosibirsk halten zwei Jungen und zwei Mädchen ein mit Fingerfarben bemaltes Z in Weiß-Blau-Rot in den Händen. Im Kindergarten Nummer 111 in Sankt Petersburg präsentieren die Erzieher*innen eine „patriotische Ausstellung“ ihrer Schützlinge: Panzer aus Eierkartons, Panzer aus Streichholzschachteln, Panzer aus Buntpapier. Ein Putin-Porträt hängt an der Tür, darüber ein Z, daneben steht eine Puppe.
Auch im Klassenzimmer läuft es „nach Plan“
Die Sprecherin des russischen Außenministeriums, die stets streitlüsterne Maria Sacharowa, hatte vor einigen Tagen Moskauer Lehrer*innen zu einem Online-Treffen gebeten. Das Thema: „Die Sicht der russischen Behörden auf die Situation in der Ukraine“. Lehrer*innen sollen in ihren Klassen lediglich die offizielle Sicht der Dinge an ihre Klassen weitergeben, lautete Sacharowas Aufforderung: Die russische „Spezialoperation“ zur „Entnazifizierung und Entmilitarisierung“ der Ukraine laufe „nach Plan“.
So sagt es auch Russlands Präsident Wladimir Putin immer wieder. Was dieser Plan letztlich ist, sagt er nicht. Dafür arbeitet das Aufklärungsministerium an weiteren Plänen, den offiziell nicht existierenden Krieg in der Ukraine ins Schulleben einzubeziehen. Der frühere Bildungsminister und jetzige Verhandlungsführer der russischen Seite, Wladimir Medinski, hat da ganz eigene Ideen.
Der Mann, der den Schlächter Stalin lobt und sich in seinen angeblich geschichtlichen Arbeiten wenig um Quellen schert, will die erste Schulstunde mit einem Gebet anfangen lassen: auf den Ruhm Russlands. Das Aufklärungsministerium prüft nun seinen Vorschlag, wonach auch die russische Flagge besungen werden soll.
Ein Zeichentrickfilm eines kremlloyalen Senders will in zweieinhalb Minuten erklären, was zwischen Russland und der Ukraine passiere. „Wanja und Kolja waren beste Freunde“, heißt es darin. „Alles machten sie zusammen. Dann aber wechselte Kolja (ein Junge in den Farben der ukrainischen Flagge) in eine andere Klasse und wollte sich fortan Mykola nennen. Er hatte neue Freunde gefunden (ein Junge in den Farben der US-amerikanischen Flagge ist dabei zu sehen). Er fing an, andere zu verhauen, angestiftet von seinen neuen Freunden.
Militarismus von klein auf
Wanja (ein Junge in den Farben der russischer Trikolore) nahm ihm schließlich den Stock weg, damit er niemanden mehr schlägt. Aber Kolja heulte laut, so sahen alle drumherum in Wanja den Schuldigen. Dabei wollte Wanja nur Frieden für alle.“ So ähnlich verhalte es sich zwischen den Brudervölkern Russland und der Ukraine, sagt die Stimme danach und verkauft den russischen Angriff auf sein Nachbarland als Friedensmission.
Der Militarismus von klein auf ist nicht neu in Russland. Patriotische Erziehung ist bereits im Kindergarten Teil der Erziehungsarbeit. In den staatlichen Schulen gehört der Patriotismus-Unterricht zum Lehrplan. Seit einigen Tagen steht dabei auch neues Videomaterial zur Verfügung: eine offene Stunde unter dem Namen „Die Verteidiger des Friedens“. Wobei das russische Wort für „Frieden“ genauso lautet wie das russische Wort für „Welt“. Somit lässt es sich mit dem Begriff spielen.
Die offene Stunde ist eine Propagandaveranstaltung für Kinder ab sechs. Da sitzt die zwölfjährige russische Sängerin Sofia Chomenko im Studio und sagt mit ihrer hellen Stimme: „Lasst uns über alles sprechen, was uns dabei helfen wird, herauszufinden, was gerade los ist.“ Sie hat „Experten“ eingeladen. Einen Moderator, der bei Putins Allrussischer Volksfront mitmischt, einst zu Wahlkampfzwecken gegründet, und einen Militärexperten, der, wie Russlands unabhängige Journalist*innen herausfanden, als Beleg seiner „Expertise“ nie etwas publiziert hat.
Sofia also stellt vermeintlich naive Fragen: Dürfen denn russischsprachige Ukrainer kein Russisch mehr sprechen? Hat denn alles mit dem Zerfall der Sowjetunion angefangen? Sind die USA denn eine wahrhaftige Bedrohung?
Kritischen Lehrkräften droht Haft
Die „Experten“ erklären der Schülerin, dass die Orange Revolution in der Ukraine eine „Generalprobe“ für die Bedrohung Russlands gewesen sei, sprechen über den acht Jahre andauernden „Terror“ in den sogenannten Volksrepubliken im Donbass, legen nahe, dass die Nato Moskau „einkreise“ und sagen das, was das russische Staatsfernsehen Tag für Tag sagt: „Die Spezialoperation hat das Ziel, die Ukraine zum Frieden zu zwingen.“ Nach einer halben Stunde nickt Sofia und sagt: „Ich fange an, die Logik zu sehen.“
Vor allem zum Jahrestag der russischen Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim, die Moskau als „Heimholung“ bezeichnet, häuften sich die „Friedensstunden“ in den Schulen. Schulleitungen bekamen vom Aufklärungsministerium ganze Handbücher mit möglichen Fragen der Schüler*innen und den offiziellen Antworten darauf.
„Was denkt ihr, warum Präsident Putin eine solche Entscheidung getroffen hat? Erinnert euch an die Geschichte. Russland ist stets als Sicherheitsgarant der Ukraine aufgetreten. Lässt sich das Handeln unseres Landes denn nicht als Hilfe des Älteren für den Jüngeren beschreiben?“, steht darin. Zudem wird sogleich darauf verwiesen, welchen Quellen zu vertrauen sei: dem russischen Präsidenten, der russischen Regierung, der Website des russischen Verteidigungsministeriums und den staatlichen Medien.
„Politische Pädophilie“ nennen Kritiker*innen die Methoden. Manche Lehrer*innen wehren sich gegen die aufgezwungenen „Friedensstunden“ und veranstalten lieber Teetrinkrunden mit ihren Schüler*innen. Manche schreiben kritische Posts in den sozialen Netzwerken und werden von ihren Direktor*innen zur Kündigung aufgefordert.
Der 28-jährige Geografie-Lehrer Kjamran Manafly aus Moskau machte seinen Fall publik. Er hatte bei Instagram ein paar Zeilen veröffentlicht, hatte geschrieben, dass er nicht der Spiegel staatlicher Propaganda sein wolle. Die Direktorin der Moskauer Schule Nummer 498 hatte ihn daraufhin aufgefordert, den Post zu löschen, er weigerte sich, sie drohte, ihn für 15 Jahre ins Gefängnis bringen zu lassen.
So erzählte er es später russischen Medien, die im Land längst gesperrt sind. Da war er bereits ins Ausland geflüchtet, aus Angst vor dem Zugriff der Strafermittlungsbehörden. Auch Eltern wehren sich gegen die Indoktrination ihrer Kinder und nehmen sie aus den Schulen. Sie beziehen sich auf das russische Schulgesetz, das die Beschulung der Kinder zu Hause problemlos erlaubt – noch.
Politische Agitation in den Bildungseinrichtungen ist laut dem Schulgesetz verboten. Eigentlich. In so manchen Kindergärten lernen die Kleinen derweil Gedichte, die auf eine ganz andere Realität schließen lassen: „Die Jungs in unserem Kindergarten sind echte Soldaten. Sie spielen den ganzen Tag Krieg und beschützen die Mädchen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
„Männer“-Aussage von Angela Merkel
Endlich eine Erklärung für das Scheitern der Ampel
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs