Parlamentswahlen in Frankreich: Und nun?
Frankreich droht nach Runde zwei der Parlamentswahlen eine absolute Mehrheit des Rassemblement National. Wie verhalten sich die anderen Parteien?
Die Lokalzeitung Le Journal de la Haute-Marne brachte die politische Lage in Frankreich nach der ersten Runde der vorgezogenen Parlamentswahlen recht zynisch auf dem Punkt: „Eine politische Klärung in der Debatte war von vielen gewünscht worden. Diese Klärung hat es gegeben und nicht nur ein klein bisschen. Frankreich erwacht mit einer Konfrontation der Extreme.“
Laut den offiziellen Resultaten hat das rechtsextreme Rassemblement National (RN) landesweit 33,15 Prozent erreicht, während die von Sozialisten, Grünen, Kommunisten und der linkspopulistischen Bewegung La France insoumise (LFI) gebildete Neue Volksfront auf 27,99 Prozent kommt. Der Zusammenschluss der macronistischen Regierungsparteien (Ensemble) erzielte 20,83 Prozent und damit knapp 5,7 Prozentpunkte weniger als bei der vergangenen Parlamentswahlen im Jahr 2022. Die Wahlbeteiligung war mit 66,7 Prozent Teilnehmenden (plus 19,2 Prozentpunkte im Vergleich zu 2022) sehr hoch. In Paris und etlichen anderen Städten gingen am Sonntagabend Tausende Menschen auf die Straße und demonstrierten gegen den Rechtsruck in Frankreich.
Da in den meisten der insgesamt 577 Wahlkreisen ein zweiter Durchgang notwendig ist, bleiben die Hochrechnungen dieser Ergebnisse auf die vermutliche Sitzzahl fürs Erste jedoch spekulativ. Nur in 74 Fällen wurden Kandidaten auf Anhieb mit mehr als 50 Prozent gewählt, unter ihnen Marine Le Pen vom RN und der Parteichef der Sozialisten, Olivier Faure. Dies ist hingegen keinem der 24 Regierungsmitglieder gelungen, die für einen Sitz antraten – auch nicht Premierminister Gabriel Attal, trotz eines für ihn sehr günstigen Wahlkreises im Westen von Paris.
Die Wirtschaftszeitung Les Échos sieht im Ergebnis der ersten Runde der vorzeitigen Wahl der Abgeordneten der Nationalversammlung „das Ende einer Ära“ und meint damit Präsident Emmanuel Macron, der alles riskiert und außer seinem eigenen Posten so gut wie alles verloren hat. Denn er hat nicht, wie er dies vielleicht noch am Abend des 9. Juni dachte, als er seinen verdutzten Landsleuten die Neuwahlen ankündigte, von den Wählern und Wählerinnen eine neue starke Mehrheit bekommen, sondern eine schallende Ohrfeige. Unbestreitbar ist indes der Wahlsieg der extremen Rechten, die noch hofft, dass sie in der zweiten Runde vom 7. Juli eine absolute Mehrheit erobern kann.
RN-Chef sagt „Ja, aber“ zu möglichen Premierposten
Im Unterschied zum linken Volkstribun Jean-Luc Mélenchon von La France insoumise, der innerhalb der linken Volksfront und selbst in seiner eigenen Partei wegen seiner provokativen Rhetorik umstritten ist, herrscht bei RN-Chef Jordan Bardella auch keinerlei Zweifel an seinem Wunsch, das Land zu regieren. Er stellt freilich seine Bedingung: eine absolute Mehrheit, um das Programm seiner Partei umsetzen zu können.
Ob er am kommenden Sonntag eine Mehrheit der 577 Sitze erobern kann, ist derzeit noch völlig offen. Der Ausgang der Stichwahlen hängt nun wesentlich davon ab, was die Parteien – und vor allem die Wähler – der in der ersten Runde ausgeschiedenen Kandidat*innen beschließen: Sollen sie beispielsweise wirklich zwischen zwei Gegner*innen wählen, wenn sie beide als extremistisch einstufen? Während dies den einen leicht fällt, weil sie selbst die radikale Linke noch im Bereich der demokratischen Familie der Republik ansiedeln, stehen andere vor einem fürchterlichen Dilemma, „Pest oder Cholera“, das ihnen eine Entscheidung unmöglich macht. Eine dritte Gruppe hat dagegen keinerlei Bedenken, lieber der extremen Rechten als der Linken „eine Chance zu geben“.
Ungewiss ist der Ausgang der Stichwahlen vor allem in den rund 300 Wahlkreisen, wo sich nicht nur zwei, sondern drei Kandidat*innen für die zweite Runde qualifizieren konnten. Dafür brauchte es im ersten Wahlgang dafür 12,5 Prozent der Stimmen der eingeschriebenen Wahlberechtigten. Für die Linksparteien ist die Verhaltensregel klar: Keine Stimme für RN, und falls die Volksfront weniger Erfolgschancen als andere RN-Gegner (Macronisten, Konservative, Unabhängige) hat, zieht sie ihren Kandidaten zu deren Gunsten zurück – selbst wenn dieser Verzicht den möglichen Verlust eines Mandats bedeuten würde. „Republikanische Disziplin“ hieß diese Regel, an die sich in den letzten 30 Jahren auch die bürgerliche Rechte meistens hielt, um so mit einem „Cordon sanitaire“ die extreme Rechte des Front National von Jean-Marie Le Pen und danach das Rassemblement National von Tochter Marine Le Pen zu isolieren und an der Eroberung von Macht und Ämtern zu hindern.
Die Konservativen der Partei Les Républicains (LR), insofern sie mit Ex-Parteichef Eric Ciotti nicht sowieso bereits zu Bardella übergelaufen sind, wollen dieses Mal nicht zwischen RN und der Linken, vor allem den „Linksextremisten von LFI“, wählen. Bei den Macronisten herrscht noch Konfusion: Einige, wie Ex-Premierminister Édouard Philippe sind für ein Weder-noch (keine Stimme für RN, keine Stimme für die Linke), Noch-Premierminister Attal zieht den Wahlsieg von linken Volksfront-Kandidaten dem RN vor. Die bisherige Vorsitzende der Nationalversammlung, Yaël Braun-Pivet empfiehlt, bei einem Final RN kontra LFI von Fall zu Fall zu entscheiden. In diese Richtung scheint auch der Appell von Präsident Macron zu gehen, der am Sonntagabend mitteilen ließ, wegen des Vormarsches des RN schlage „vor dem zweiten Wahlgang die Stunde einer breiten nationalen Einheit der eindeutigen Demokraten der Republik“.
Macron taub für die Proteste gegen ihn
Für viele Beobachter, für die meisten seiner Gegner, aber auch für nicht wenige seiner langjährigen Mitstreiter hat Macron mit der Ausrufung von Neuwahlen nach dem für ihn enttäuschenden Abschneiden bei den Europawahlen drei Wochen zuvor einen gravierenden Irrtum begangen. Seine Erneuerungsbewegung ist „gestorben“ heißt es jetzt allenthalben. „Die brutale Auflösung der Nationalversammlung hat seine eigene Regierungsmehrheit aufgelöst“, konstatiert ein Leitartikel von Le Monde aufgrund des Wahlresultats. Macron hat bei seinem Wahlpoker alles aufs Spiel gesetzt, und er hat verloren.
Wäre es da womöglich an der Zeit, den Platz anderen zu überlassen und die Franzosen und Französinnen darüber entscheiden zu lassen? In einem Brief an die Franzosen gab er es seinen Landsleuten noch vor dem ersten Wahlgang schriftlich, dass er keinesfalls die Absicht habe, von seinem, noch bis Juni 2027 dauernden, Amt als Staatsoberhaupt zurückzutreten. Er habe aber verstanden, dass sie anders regiert werden wollen, schreibt Macron. Zu mehr Selbstkritik wollte er sich nicht durchringen.
Das ist exakt der Stil, der in immer breiteren Bevölkerungskreisen als arrogant und selbstherrlich irritiert. Selbst von seinen engsten Mitarbeitern, wie Premierminister Attal oder Yaël Braun-Pivet, wollte er keine Einwände hören, als er sie von seinem Entschluss für die Neuwahlen informierte. Er scheint taub zu sein für die doch sehr lautstarken Proteste, die ihm selber und der Form der Machtausübung gelten.
An Warnsignalen hatte es nicht gemangelt: Die mehrmonatigen und sehr heftigen Aktionen der Gelbwesten, der entschlossene und harte Widerstand der Gewerkschaften gegen seine Rentenreform und seine knappe Wiederwahl 2022, bei der er seine parlamentarische Mehrheit verlor und zuletzt bei der Europawahl die Spitzenergebnis von populistischen Listen vor allem der Rechten, die nach Einschätzung zahlloser Kommentare in erster Linie als Desavouierung seiner Präsidentschaft und seiner Person interpretiert werden müssen.
Schrumpfende Mitte
„Der Macronismus ist gestorben!“, sagt auch Édouard Philippe, der frühere Premierminister. Er muss es wissen, denn er gehörte zu den Mitbegründern der Erneuerungsbewegung „En marche“, die 2017 Macron an die Macht brachte und dem Land einen neuen Schwung geben sollte. Auch Ex-Staatspräsident Hollande, der für die oppositionelle linke Volksfront weit ab von Paris in der mittelfranzösischen Corrèze in die Stichwahl für einen Abgeordnetensitz kommt, hat der Partei seines einstigen untergebenen Wirtschaftsministers einen politischen Todesschein ausgestellt. Er gibt Macron wegen einer „ungerechtfertigten“ Auflösung der Nationalversammlung die Schuld für die dramatische Zuspitzung bei diesen Wahlen.
Während Hollande in der linken Wahlallianz das einzige Mittel sieht, um das rechtspopulistische Rassemblement National (RN) noch an der Übernahme der Regierung zu hindern, glaubt Philippe, der mit der Gründung seiner eigenen Partei Horizons bereits auf Distanz zu Macron gegangen war, noch an eine andere Alternative: eine breite Mitte von gemäßigten Sozialisten über kleinere Gruppierungen des Zentrums und Macrons ehemaligen Regierungsparteien bis zu den gemäßigt Konservativen von Les Républicains.
Die politische Mitte ist jedoch arg geschrumpft. Denn mit der Auflösung der Nationalversammlung hat Macron nicht nur seine eigene Fraktion drastisch verkleinert, er hat auch die oppositionellen Konservativen und Zentrumsdemokraten gespalten. Trotzdem spekulieren Leute wie Édouard Philippe, aber auch Noch-Premierminister Gabriel Attal und Innenminister Gérald Darmanin bereits mit einer eventuellen Präsidentschaftskandidatur in drei Jahren auf das Erbe des Macronismus. Vielleicht zu früh? In Frankreich sprechen Kenner der Politik von einem ungeschriebenen Gesetz, demzufolge kein Politiker „tot“ ist, solange er nicht begraben wurde. Daran wenigstens möchte wohl auch Emmanuel Macron felsenfest glauben.
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