Parlamentswahl in Russland: Kaum Luft zum Atmen
In der russischen Industriestadt Tscheljabinsk kämpfen die Menschen mit extremer Umweltverschmutzung. Einige stemmen sich gegen die politische Apathie.
Ihr Schild fällt im Plakatedickicht auf, weil fast alle anderen für Vertreter*innen der Regierungspartei Einiges Russland werben. Das Schild einer Oppositionellen ist ein seltener Anblick in Tscheljabinsk. Die Stadt mit ihren 1,2 Millionen Einwohner*innen liegt knapp 1.500 Kilometer östlich von Moskau. Tscheljabinsk ist in Russland für seine Schwerindustrie bekannt und in der Welt für einen Meteor, der vor acht Jahren in einen See in der Nähe stürzte.
Jelena Wachtina tritt bei der Parlamentswahl am Wochenende gegen Wladimir Putins Partei Einiges Russland an. Die 45-Jährige ist Kommunalabgeordnete in Tscheljabinsk und kandidiert nun für einen Dumasitz. Sie hat sich dem Umweltschutz verschrieben. Mit ihrer Losung „Für saubere Luft“ hat sie sich auf die Liste der Kommunisten Russlands setzen lassen, weil „ich an Leute glaube, nicht an Parteien“, wie sie sagt.
Vorgegaukelter Pluralismus Alle fünf Jahre stimmen die Russ*innen über ihr Parlament ab, die Duma. 14 vom Kreml geprüfte Parteien sind zugelassen, die meisten dürften an der 5-Prozent-Hürde scheitern. Momentan hält die Regierungspartei Einiges Russland die absolute Mehrheit. Die anderen drei Parteien – die Kommunistische Partei, die rechtspopulistische LDPR und Gerechtes Russland – sind dem Kreml gegenüber loyal.
Ohne Beobachter*innen Die Wahl dauert drei Tage, was die Wahlkommission mit den Pandemiebedingungen erklärt. Die Wahlbeobachtung ist erschwert, weil Russlands Justizministerium unabhängige russische Beobachter*innen der NGO Golos (Stimme) zu „ausländischen Agenten“ erklärt hat. Auch die OSZE schickt keine Beobachtermission, nachdem Russland die Bedingungen dafür verschärft hatte. (taz)
Sie braucht die finanziellen Mittel der Partei für den Wahlkampf, spart sich so auch das mühsame Sammeln von Unterschriften, um zur Wahl zugelassen zu werden. Als Einzelkämpferin käme sie nicht weit. Der linke Populismus der von der Kommunistischen Partei abgespaltenen Kommunisten Russlands stört sie wenig.
Seit Freitag wählt Russland drei Tage lang sein Parlament. Es ist eine inhaltsleere Wahl. Menschen, die man nach ihr fragt, machen oft eine Handbewegung, als wollten sie eine lästige Fliege wegscheuchen. Für die politische Elite aber gilt es, den Status quo zu erhalten. Nervös verteilt sie Geldgeschenke an Rentner*innen und Soldat*innen, preist die Familie oder lässt noch schnell Promenaden hübsch herrichten.
Die Menschen sagen trotzdem weiterhin: „Wir haben nichts zu entscheiden.“
Jelena Wachtina aber hat eines Tages für sich entschieden, dass sie etwas zu entscheiden hat. Dass sie raus will aus der „jahrzehntelang antrainierten Hilflosigkeit“, wie sie die Apathie vieler Russ*innen nennt. Damals lag ihr achtjähriger Sohn nach einem Fußballspiel wegen eines umgestürzten Tors mit kaputtem Schädel in der Klinik und keine Behörde wollte dem Unfall nachgehen.
Eine, die Gesicht zeigen will
Ihre Chancen, in die Duma zu kommen, sind gering. Das ist ihr wie jeder Oppositionellen bewusst. „Aber es muss sich etwas ändern, und irgendwann wird es das auch.“
So steuert sie an einem Mittwochabend ihren dunklen Subaru durch die Dorfstraße von Sadowy, einem einstigen Agrartestgelände der örtlichen Universität. Hier will sie Gesicht zeigen, will sagen: „Ich bin da, ich stelle Fragen, ich fordere Antworten.“ Ein paar Dutzend Dorfbewohner*innen haben sich an sie als Kommunalabgeordnete gewandt, damit sie sich ein Bild von der illegalen Mülldeponie unweit ihrer Häuser macht. „Uns hört sonst niemand“, sagen sie und zeigen Wachtina den Industrieschrott auf den Feldern, den gestapelten Plastikmüll in offenen Säcken, die aufgewühlte Erde.
„Wir können kaum atmen, wenn hier der Müll brennt“, klagen die Menschen. Wachtina weiß, wie es ist, wenn die Luft zum Atmen fehlt. Alle in Tscheljabinsk wissen es.
Einst war die Stadt Hauptumschlagplatz für Tee und Getreide. Ein kleiner Ort am Fuße des Urals, reich an Rohstoffen in der Umgebung. In den 1930er Jahren folgte die Industrialisierung. Auch Gulag-Häftlinge und deutsche Kriegsgefangene mussten mitbauen, förderten Bodenschätze, errichteten Stadtteile rund um die Fabriken. Tscheljabinsk, dem baschkirischen Wortursprung nach „die Edle“, wurde zur Fabrikstadt, einem Ort, der nur existiert, weil es die Unternehmen gibt.
Eine Viertelstunde dauert es mit dem Auto, das Metallurgische Viertel zu durchfahren. Schlote ragen in den schwarzen Himmel, Kühltürme stehen hie und da, in der Ferne verfallen die alten Werksgebäude, die Erde ist rostbraun verfärbt, auf den Dächern der fensterlosen aufgegebenen Bauten wächst Gras. Die Abraumhalden sind zuweilen so hoch wie fünfstöckige Gebäude. „Es ist eine Gegend, in der sich gut Filme über den Weltuntergang drehen ließen“, sagt ein Unternehmer, der mit der Aufbereitung der Industrieabfälle sein Geld verdient. Die Fabriken sichern der Stadt das Überleben und machen die Menschen krank. Bis heute.
Land der 1.000 verseuchten Seen
Es ist nicht nur die verpestete Luft, es sind auch die Böden, das Wasser, die leiden. Sie leiden noch mehr, seit ein Kupferwerk nur zwölf Kilometer von der Stadt entfernt die Natur weiter ausbeutet. Hunderttausende Unterschriften haben den Bau des Unternehmens in Tominski nicht stoppen können.
Die gelbe Tasche mit dem schwarzen „Stopp-Schild“ gegen das Werk trägt Nadeschda Wertjachowskaja noch immer. Die pensionierte Chemikerin war einst gegen die wilden Parkplätze auf den Rasenflächen ihrer Stadt vorgegangen, hat sich später gegen die Abholzung im Stadtwald eingesetzt. Mittlerweile kämpft sie für sauberes Wasser. Die Region um Tscheljabinsk wird „Land der 1.000 Seen“ genannt, viele dieser Seen sind allerdings verseucht.
Das Wasserreservoir, nur drei Busstationen von der Wohnung der Rentnerin entfernt, ist voller Blaualgen, zentimeterdick wird der dunkelgrüne Schaum an den Strand gespült. Offizielle Dokumente zeigen keine Verschmutzung an. „Die Informationspolitik ist katastrophal. Man hält vieles von uns fern“, sagt sie mit ihrer ruhigen Stimme. Wertjachowskaja sammelt Wasserproben, schreibt Briefe, immer und immer wieder, zieht vor Gericht.
Währenddessen verlassen vor allem junge Menschen Tscheljabinsk, auch ihre Tochter arbeitet in der Hauptstadt. So manche*r Oppositionelle lebt mittlerweile im Ausland. Die Repressionen des Regimes machen auch hinter dem Ural nicht Halt. Die Umweltschützerin kennt den mühsamen Kampf in dieser bedrückenden Stadt. Aufgeben will sie dennoch nicht. „Die Behörden rechnen doch damit, dass wir genug haben von diesem zermürbenden Verhalten. Für mich ist das eine Sache der Haltung.“ Sie geht am Stadtwald entlang, schaut in die Ferne. „Wir haben einen kleinen Durchzug heute, außerdem gab mir der Arzt eine Hormonspritze. Wie gut ich plötzlich atmen kann!“
Giftnebel sorgt für Asthma
Wenn der Westwind kommt, ist die Stadt eingehüllt in einen dichten grauen Nebel. Die Sonne schimmert als unscharfer gelblicher Ball in der Ferne. Die Augen tränen, der Hals kratzt, auf der Zunge breitet sich ein süßlich-metallischer Geschmack aus, im Kopf pocht es. „Ungünstige meteorologische Bedingungen“ nennen die Behörden hier, im Kessel am Fuße des Gebirges, diese Lage.
In manchen Nächten sei der Ausstoß der Fabriken gut sichtbar. Halte man die Hand aus dem Fenster, werde sie ganz staubig, erzählen die Menschen. Viele Kinder litten an Asthma. Die Konzentration von Formaldehyd habe im vergangenen Monat den zulässigen monatlichen Höchstwert um das 2,5-Fache überschritten, heißt es beim Hydrometeorologischen Zentrum der Stadt. Auch die Werte von Schwefeldioxid, Kohlenmonoxid, Ammoniak, Fluorwasserstoff, Stickstoffdioxid und selbst Schwefelwasserstoff seien erhöht. Das sind hochgiftige Gase, die die Tscheljabinsker täglich einatmen und gegen die Lokalpolitiker*innen wie Jelena Wachtina und Aktivisten wie Lew Wladow beharrlich ankämpfen.
„Ich bin hier geboren, hier aufgewachsen, bin wahrscheinlich so an diesen Dreck gewöhnt, dass ich ihn nicht spüre“, sagt Wladow, 29 Jahre alt, als er durch die Fußgängerzone seiner Stadt läuft. Manchmal ertönt hier Vogelgezwitscher aus den Straßenlautsprechern, die echten Vögel haben sich längst verzogen. „Unsere Stadt baut auf Raubbau der Natur und schöpft aus dem Wert der Bodenschätze. Und wir als Tscheljabinsker verstehen nicht, was wir sein wollen“, sagt er.
Wenn Wladow in seinem hellen Mantel durch die Straßen läuft, wird er immer wieder von jungen Menschen gegrüßt, manche fragen nach einem Autogramm. Wladow ist bekannt in der Stadt, weil er sich nicht scheut, in den sozialen Netzwerken den Gouverneur und die Stadtregierung Tscheljabinsks scharf anzugehen. Auch auf regionaler Ebene hat die Regierungspartei Einiges Russland hier die Macht.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Wladow will die Bürger*innen darüber aufklären, an was für einem Ort sie leben und wie diese Gegend, die eigentlich nicht für Menschen gemacht ist, doch an Lebensqualität gewinnen könnte, durch Projekte, die woanders auf der Welt längst zum gängigen Stadtbild gehören: städtische Erholungszonen, Radverkehr, Elektromobilität.
Der gelernte Bauingenieur nennt sich „Tscheljabinsker Urbanist“ und er erklärt mit Fotos und Videos, was es mit dem Städtebau auf sich hat. Er kritisiert die neu eröffnete Uferpromenade, die ins Nichts führt. Und er fordert immer wieder eine barrierefreie Stadt für Fußgänger.
„Das Ziel jedes jungen Menschen hier ist es, ein eigenes Auto zu haben. Das kann es doch nicht sein“, sagt Wladow. Zu dem Schmutz aus den Fabriken kommen noch die Abgase der Autos.
„Hier in Tscheljabinsk stimmt etwas nicht“
Anfang der 2000er Jahre hatte der damalige Bürgermeister dem Stau in der Stadt den Garaus machen wollen. Für die sogenannte Straßenrevolution ließ er gnadenlos Bäume abholzen, Bürgersteige mussten Autostraßen Platz machen. Die Verkehrsachsen der Stadt sehen bis heute aus, als würden hier Flugzeuge starten und landen.
Die Stadt ist langgezogen, der öffentliche Nahverkehr liegt brach. Über die breiten Straßen fahren klapprige Trolleybusse und noch klapprigere Straßenbähnchen.
„Wir sehen die Zerstörung, tun aber nichts dagegen“, sagt der junge Urbanist und meint, viele in der Stadt sähen in Tscheljabinsk einen „ungemütlichen Ort, wo gearbeitet und gelitten wird“.
Kritische Nachfragen aber, sinniert er, entstünden erst durchs Reisen. Lew Wladow war 23, als er sein wenige Jahre zuvor gegründetes Unternehmen für die Reparatur von Elektronik verkaufte und sich in die Welt aufmachte: nach Frankreich, Italien, Deutschland.„Das war mein Schlüsselmoment“, erzählt er. „Ich begann mich umzuschauen und verstand: Hier in Tscheljabinsk stimmt etwas nicht.“
Er durchwanderte seine Stadt zu Fuß, stolperte über kaputte Bordsteine, regte sich über Zäune auf, die entlang der Straßen, manchmal auch in zweifacher Ausführung, aufgestellt werden. Und er gewann Zehntausende Abonnenten in den sozialen Netzwerken. Mittlerweile hat er ein kleines Architekturbüro und realisiert mit Gleichgesinnten Mini-Stadtbauprojekte.
Über die Wahlen möchte er aber nicht sprechen. In die Politik zu wechseln ist für ihn auch keine Option. Er glaubt, dass er als Aktivist mehr bewegen kann denn als Politiker. Abgeordneter sei in Russland schließlich eher ein Schimpfwort.
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