Opposition in Coronazeiten: Sauerstoff für die Demokratie
Gerade im Ausnahmezustand braucht es eine handlungsfähige parlamentarische Opposition. Die muss ihre neue Rolle erst noch finden.
D ie liberale Demokratie braucht die Freiheitsrechte wie die Luft zum Atmen. In der Coronakrise jedoch leidet die Demokratie an Sauerstoffmangel. Wichtige Freiheits- und Partizipationsrechte dürfen im Ausnahmezustand der Pandemie nur eingeschränkt oder gar nicht praktiziert werden. Zu Recht beklagen Verfassungsrechtler deshalb die Einschränkungen.
Die Versammlungsfreiheit ist de facto suspendiert. Wirtschafts-, Bewegungs- und Religionsfreiheit sind stark eingeschränkt. In Zeiten der SARS-CoV-2-Pandemie ist Deutschland eine Demokratie mit Defekten. Dabei bedarf es gerade im Ausnahmezustand einer handlungsfähigen parlamentarischen Opposition. Die Opposition jedoch muss ihre neue Rolle erst noch finden.
Im Ausnahmezustand ist es für die Opposition schwer, sich kritisch zur Regierungspolitik zu verhalten. Unter Bedingungen der manifesten Bedrohung von Leib und Leben hat sich das politische System zu einer Superkonsensdemokratie gewandelt. Die Opposition wird viel stärker in die Pflicht genommen und lässt sich auch bereitwillig in die Pflicht nehmen, am Skript der Regierungspolitik mitzuschreiben.
In den Bundesländern, denen eine große Bedeutung für die Pandemiebekämpfung zukommt, tragen fast alle Oppositionsparteien des Bundestags Regierungsverantwortung. In der Pandemie wird Deutschland von einer breiten informellen Parteienallianz regiert. Denn die Opposition unterstützt grosso modo die Entscheidungen der Großen Koalition zur Bekämpfung des Coronavirus.
Neue Konsensdemokratie
Die Superkonsensdemokratie führt zu einer krassen Veränderung der Funktion parlamentarischer Opposition. Im Normalbetrieb der parlamentarischen Demokratie bekleidet die Opposition eine Doppelrolle. Als Mitregent ist sie bei der Erfüllung aller Parlamentsfunktionen Wahl- und Abwahl, Gesetzgebung, Kontrolle und Kommunikation systematisch beteiligt. Prägender für das öffentliche Bild der Opposition ist ihre Rolle als Dissident. Hier ist die parlamentarische Opposition institutioneller Gegenspieler, deren Funktion darin liegt, Kritik zu äußern, die Regierung zu kontrollieren und Alternativen zur Regierungsarbeit zu entwickeln.
Im Ausnahmezustand werden die Rollen Mitregent und Dissident gravierend verändert. Die neue Rolle im Krisenbündnis mit der Bundesregierung zeigt sich sowohl in der veränderten Kommunikation zwischen Regierung und Opposition als auch im Abstimmungsverhalten der Oppositionsparteien. Immer wieder wird in diesen Tagen seitens der Opposition gelobt, wie sehr die Bundesregierung um Konsenslösungen bei wichtigen Gesetzesbeschlüssen der Pandemiebekämpfung bemüht ist.
Augenscheinlich wird die neue Konsensdemokratie am Beispiel der Novellierung des Infektionsschutzgesetzes. Das verfassungsrechtlich fragwürdige Gesetz wurde auch mit Stimmen der Oppositionsfraktionen durch den Bundestag beschlossen. Lediglich AfD und Die Linke griffen zum verschämten Mittel der Stimmenthaltung.
In wenigen Tagen durch das Parlament
In Zeiten der Superkonsensdemokratie ist für die Rolle des Dissidenten hingegen kaum Platz auf der Bühne. Mit Turboregieren wurde das Coronakrisenpaket innerhalb weniger Tage ins Parlament eingebracht und beschlossen, vom Bundesrat bestätigt, von der Bundeskanzlerin, dem zuständigem Bundesminister und schließlich vom Bundespräsidenten unterzeichnet, um im Bundesgesetzblatt verkündet zu werden. In Zeiten des Normalbetriebs des Bundestags dauert das Gesetzgebungsverfahren in der Regel ein Dreivierteljahr. Erfolge erzielt das Krisenmanagement auch in der öffentlichen Wahrnehmung. So befürworten 74 Prozent der Bevölkerung die Maßnahmen, die das Leben stark einschränken. 16 Prozent halten sogar noch härtere Regeln für notwendig.
Wichtige Gründe, warum es dennoch eines institutionellen Gegenspielers bedarf, liegen im Janusgesicht des Krisenmanagements. Auf der einen Seite erweisen sich Regierung und Verwaltung angesichts der neuartigen Krisensituation in vielen Fällen als effizient. Andererseits verursacht das Regierungsmanagement Folgeprobleme. So ist nicht absehbar, bis wann die massiven Eingriffe in die Grundrechte zeitlich gelten. Zentrale Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse werden aus dem Parlament in Expertenkommissionen der Regierung ausgelagert.
Mindesabstand zu Regierung
Angesichts der fundamentalen Eingriffe in das öffentliche und private Leben gelingt es der parlamentarischen Opposition nur unzureichend ihre Handlungsmöglichkeiten zu stärken. Gerade in der Coronakrise braucht die Opposition einen Mindestabstand zur Regierung. Dafür müsste sie die vernachlässigte Rolle des Dissidenten wieder ins Rampenlicht rücken und die drei Aufgaben der Opposition – Kritik, Kontrolle und Alternative – praktizieren.
Erstens, Turboregieren verursacht Fehler. Diese zu kritisieren, ist primäre Aufgabe von Opposition. Zweitens, Opposition muss kontrollieren, ob die ergriffenen Notstandsmaßnahmen die unhintergehbaren Standards Demokratie-, Verfassungs- und Sozialverträglichkeit erfüllen. Dringend erforderlich ist drittens, dass die Opposition wieder politische Alternativen erarbeitet. Die Regierung ist dazu momentan kaum in der Lage. Das Regierungsmanagement ist im Ausnahmezustand auf situatives und kurzfristiges Regieren im Akkord programmiert.
Dabei gilt das TINA-Prinzip: There is no alternative. Die Opposition hat eine andere zeitliche Taktung. Sie ist nicht zur Turbo-Opposition verurteilt. Im Gegenteil: Eine wichtige Aufgabe der Opposition liegt darin, gemeinsam mit der Zivilgesellschaft an Lösungen zu arbeiten, wie es weitergehen soll. Die Organisation eines über die sozialen Medien breit angelegten gesellschaftlichen Gesprächs über die Maßstäbe und Szenarien nach dem Ausnahmezustand wäre eine höchst lohnenswerte Aufgabe. Denn für die Opposition gilt nicht das TINA-, sondern das TAO-Prinzip: There are options!
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