Österreich verliert im Achtelfinale: „So a Schaaß“
Österreichs Team und Fans hadern mit dem 1:2 gegen die Türkei: kein Sieg trotz Spielüberlegenheit. Der türkische Torwart hatte etwas dagegen.
So leer und ausgemergelt wirkten nach dem wilden 1:2 der Österreicher gegen ein mit letzter Kraft kämpfendes türkisches Team nicht nur die Spieler, sondern auch viele Fans, deren Stimmung jäh gekippt war vom vorfreudigen Überschwang, der die Straßen rund ums Zentralstadion erfüllt hatte, in eine tiefe, stille Niedergeschlagenheit. „So a Schaaß“, war immer wieder zu hören, und die Köpfe hingen tief, hatte man doch fest daran geglaubt, zum ersten Mal ins Viertelfinale bei einer Fußballeuropameisterschaft einziehen zu können.
Dass es da bereits eine mentale Buchung von mindestens einem weiteren Knock-out-Spiel gab, das ließ auch Österreichs deutscher Trainer Ralf Rangnick durchblicken: „Für uns war klar, dass die Reise noch länger weitergeht und wir uns in unserem Quartier in Berlin auf die nächsten Spiele vorbereiten. Es ist vollkommen klar, dass im Moment eine Enttäuschung und eine Leere da ist“, sagte der Teamchef, der den in der Vergangenheit stets zaudernden Ösis ein solides Selbstbewusstsein und taktische Stabilität mitgegeben hat.
Doch die Türken hatten ein furchtbar simples Mittel, um das vielgerühmte Pressing der eifrigen Rangnick-Schüler auszubremsen. Sie schlugen ihre Ecken, vier an der Zahl waren es in diesem Spiel, jeweils auf den kurzen Pfosten. Damit überrumpelten sie die vermeintlichen Taktikfüchse schon nach 57 Sekunden – zweitschnellster Treffer in der EM-Geschichte.
Clevere Eckbälle der Türken
Österreichs Defensive, vor allem Philipp Lienhart und der noch unglücklicher agierende und deswegen früh ausgewechselte Phillipp Mwene, kam mit diesen Flanken nicht klar, die Türken sprangen jeweils deutlich höher beziehungsweise machten mehr draus, und so war es in beiden Fällen Merih Demiral vom saudischen Klub Al-Ahli, der diese cleveren Eckbälle von Jungtalent Arda Güler verwertete.
Die Metrik des Spiels ist nun einmal gnadenlos: Wer trifft, hat recht – auch wenn Ralf Rangnick die Fußballwelt nicht mehr so recht verstehen konnte. Österreich ist raus trotz 20:6 Torschüssen, trotz eines krassen 2,73 zu 0,87 im Expected-Goals-Wert (xG), mehr Ballbesitz und großer Dominanz.
„Wir hatten so viele Torchancen wie im März, aber da haben wir 6:1 gewonnen“, sagte Ralf Rangnick und ergänzte: „Deswegen fühlt sich das gerade noch sehr surreal, sehr grotesk an, dass wir nach so einer Leistung, vor allem in der zweiten Halbzeit waren es 45 Minuten Powerplay, die Heimreise antreten müssen“, wunderte sich Rangnick. „Ein paar von uns haben geweint. Wir sind nicht verdient ausgeschieden“, sagte Michael Gregoritsch, dessen Anschlusstreffer, ebenfalls nach einer Ecke, nicht reichte fürs Weiterkommen.
Alles warfen die Ösis hinein, verausgabten sich im Leipziger Regen bis zum Gehtnichtmehr, aber selbst eine Großchance von Christoph Baumgartner in der Nachspielzeit vereitelte der türkische Keeper Mert Günok in wahrlich glänzender Manier. In der Türkei war man sich schnell einig, dass diese Rettungstat das Format der Gordon-Banks-Parade aus dem Jahr 1970 hatte; „Banks of England“ hatte seinerzeit bei der WM einen Aufsetzer-Kopfball von Pelé toll gehalten.
Gigant im Tor
Der Weltfußballverband Fifa hatte diese Szene als eine der besten Rettungstaten in der Geschichte der Fußball-Weltmeisterschaften ausgezeichnet. Baumgartner köpfte also freistehend vorm Tor, der Ball titschte auf, schien über die Torlinie zu springen, doch Günok erreichte den Ball mit einem wunderbaren Reflex. „Mit Gordon Banks im Tor ist dann leider auch die letzte große Chance, die wir hatten, nicht ins Tor gegangen“, haderte Rangnick.
Angreifer Michael Gregoritsch sprach ehrfürchtig von einer „der besten Paraden, die ich live am Platz gesehen habe“. Man müsse dem türkischen Torhüter „echt Anerkennung zollen, das war für mich eigentlich ein sicheres Tor“, sagte der Freiburger. Und auch Baumgartner war perplex: „Ich glaube, ich mache nicht so viel falsch.“
Ralf Rangnick war sich sicher, dass Österreich in der Verlängerung gewonnen hätte, „wenn der Kopfball reingeht“. Die Szene hatte jedenfalls einen xG-Wert von 0,94. Dies bedeutet, dass statistisch gesehen eine solche Chance in 94 von 100 Fällen zu einem Treffer führt. Günok entwickelte sich an diesem Abend jedoch zu einem „Giganten im Tor“, wie die türkische Zeitung Hürriyet schrieb.
Trotz ihrer Fassungslosigkeit spendeten viele österreichische Fans ihrem Team Applaus und Anerkennung für ein erneut sehr mutiges Spiel, und auch der nach Leipzig gereiste österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer schrieb hernach auf der Plattform X: „Erhobenen Hauptes verabschiedet sich unser Nationalteam von dieser EM. Österreich ist stolz auf Euch!“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Getöteter General in Moskau
Der Menschheit ein Wohlgefallen?
Grünes Wahlprogramm 2025
Wirtschaft vor Klima
Sturz des Assad-Regimes
Freut euch über Syrien!
Bombenattentat in Moskau
Anschlag mit Sprengkraft
Weihnachten und Einsamkeit
Die neue Volkskrankheit
Foltergefängnisse in Syrien
Den Kerker im Kopf