Österreich nach dem Bruch der Koalition: Das Prinzip Kickl
In Wien kann man beobachten, welchen Schaden rechtsextreme Politiker verursachen, wenn sie an die Macht kommen. Eine Rekonstruktion.
Die Polizisten nehmen sich beim Verfassungsschutz auch das Referat Extremismus vor, im Büro der Leiterin stapeln sich Papierunterlagen, 397 Seiten davon nehmen sie mit. Außerdem ein Kuvert mit 19 CDs, „aktuelle Fälle – Beweismittel!!!“ vermerken die Ermittler auf dem Sicherstellungsprotokoll. Auch die Smartphones der Referatsleiterin packen sie ein, ihren Computer, USB-Sticks.
Als die Polizisten den Leiter der IT-Abteilung treffen, drücken sie ihn gegen die Wand, durchsuchen ihn, nehmen ihm seine Armbanduhr ab, weil sie wohl glauben, darin könnte ein Mechanismus versteckt sein, mit dem er Daten per Fernbedienung löschen kann. In seiner Abteilung konfiszieren sie auch eine unscheinbare Festplatte, sie ist unbeschriftet. Was die Ermittler zu diesem Zeitpunkt nicht wissen: Darauf befindet sich die Neptun-Kommunikation – hochsensible Daten, gesammelt und ausgetauscht von europäischen Nachrichtendiensten. Dass diese Daten den österreichischen Verfassungsschutz verlassen, löst eine europaweite Geheimdienstkrise aus.
Was wie ein Überfall wirkt, ist offiziell anberaumt von einer Staatsanwaltschaft, genehmigt von einem Richter. Eigentlich aber, das werden später Recherchen von Journalisten, Gerichten und einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss zeigen, stehen hinter der Razzia zwei Männer. Der eine heißt Peter Goldgruber, ein Polizist und Jurist, nun hoher Beamter im Innenministerium. Der andere heißt Herbert Kickl, der Innenminister. Einer der wichtigsten Männer der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ).
Nachdem Freitag vor einer Woche der Spiegel und die Süddeutsche Zeitung ein Video veröffentlichten, auf dem zu sehen war, wie der FPÖ-Parteivorsitzende Heinz-Christian Strache und der FPÖ-Fraktionschef Johann Gudenus in einer Villa auf Ibiza im Juli 2017 Wodka-Red-Bull tranken und einer vermeintlichen russischen Oligarchennichte lukrative Staatsaufträge versprachen, erklärten die beiden Politiker schnell ihre Rücktritte. Danach hing die Frage, ob die Österreichische Volkspartei ÖVP und die FPÖ weiter koalieren, an der Personalie Kickl.
In den aufgezeichneten Gesprächen auf Ibiza ging es auch um möglicherweise illegale Parteienfinanzierung. Strache sprach von Spenden besonders reicher Österreicher an die FPÖ, die über einen Verein gelaufen sein sollen, um ihre Herkunft zu verschleiern. Obwohl Kickl zum Zeitpunkt der Entstehung des Videos FPÖ-Generalsekretär war, hätte er nun als Innenminister selbst über die Ermittlungen zu diesen Spenden gewacht.
Beschädigtes Vertrauen
Kickl wollte nicht von sich aus gehen, die FPÖ weigerte sich, ihn als Verhandlungsmasse einzusetzen. Als der Bundespräsident auf Wunsch von Bundeskanzler Sebastian Kurz ankündigte, den Innenminister zu entlassen, traten die verbliebenen FPÖ-Minister aus Empörung zurück.
Was aber hat Kickl in seinen 18 Monaten im Amt gemacht, dass seine Personalie so wichtig war? Und: Was bleibt zurück, wenn der Innenminister einer rechtsextremen Partei abtritt, der von Gewaltenteilung nicht viel hält und unter anderem mit dem Satz auffiel, dass das Recht der Politik zu folgen habe und nicht die Politik dem Recht? Was muss der Nachfolger reparieren?
Es gibt kein Ministerium in der jüngeren österreichischen Geschichte, in dem die Umwälzungen und das politische Kalkül der Regierenden so umfangreich dokumentiert sind, wie das beim Innenministerium unter Herbert Kickl der Fall ist. Eine Reihe von Gerichtsverfahren beschäftigen sich mit Kickls Einflussnahme. Nur ein Dreivierteljahr nach Beginn seiner Amtszeit beschloss das österreichische Parlament, einen Untersuchungsausschuss einzurichten, die Protokolle sind zugänglich. Außerdem liegen der taz nichtöffentliche Zeugenbefragungen und Asservatenlisten vor. Hinzu kommen Gespräche mit Augenzeugen und Einschätzungen von denjenigen, die Einblick ins Innere des Ministeriums haben.
Im Fall Kickl gibt es eine eindeutige Antwort: Nach 18 Monaten FPÖ im Innenministerium muss nicht weniger repariert werden als das Vertrauen in den Rechtsstaat.
Freie Hand
Es beginnt am ersten Tag. Der alte Innenminister übergibt zur Amtseinführung dem neuen Innenminister eine Fahne, das ist so üblich. Dann hält der gerade vereidigte Kickl eine kurze Ansprache. Die Spitzenbeamten des Ministeriums sind da. Es ist der Moment für ein paar höfliche Begrüßungsworte, aber Kickl hält sich nicht lange damit auf. Er stellt Peter Goldgruber als seinen Generalsekretär vor, eine spezielle Führungsposition in österreichischen Ministerien. Kickl sagt: „Mein Generalsekretär ist ab sofort – ich wiederhole, ab sofort – weisungsbefugt gegenüber allen Beamten.“ Daran erinnert sich ein damals Anwesender.
Das ist neu. Die mächtige Nummer zwei in einem Ministerium ist eine Erfindung der schwarz-blauen Regierung, Generalsekretäre hat es vorher schon gegeben, aber sie waren nicht mit tatsächlicher Macht ausgestattet, Entscheidungen zu treffen, direkte Anweisungen zu geben. Der Generalsekretär im Innenministerium untersteht nun nur noch einer Person: dem Innenminister selbst. Peter Goldgruber hat freie Hand.
Kritiker sagen, dieser Posten sei erfunden worden, damit sich die Ministerinnen und Minister bei Kritik hinter ihre Adjutanten zurückziehen können – der Generalsekretär ist es dann gewesen, sie hätten ja keine Weisung gegeben.
Lange war Herbert Kickl selbst der Mann im Hintergrund. Zu Beginn seiner Karriere hat er Jörg Haider Tee gekocht, später dessen Reden geschrieben. Nach Haiders Ausstieg bei der FPÖ passte Kickl sich ideologisch Heinz-Christian Strache an, er reüssiert als verbaler Scharfmacher. Von Kickl stammen Parolen wie „Mut zum Wiener Blut“ oder „Daham statt Islam“.
Gemeinsame Pläne
Er gilt als Prototyp eines Rechtspopulisten, der Politik macht, indem er die Gesellschaft in ein „Wir“ und „die anderen“ spaltet. Ausgerechnet derjenige, dessen Politik sich auf Angst begründet, soll also ab Dezember 2017 mit dem Antritt von Kurz’ schwarz-blauer Regierung als Minister für die innere Sicherheit sorgen.
Peter Goldgruber hat Kickl nur Tage vor seinem Amtsantritt bei den Koalitionsverhandlungen kennengelernt. Schon unter der ÖVP hatte Goldgruber versucht, Karriere zu machen, auch mal bei den Sozialdemokraten. Manche beschreiben ihn als Asketen. Er gilt als streng zu sich selbst und fleißig. Und Kickl ist vor allem daran interessiert, Stimmen für die FPÖ einzusammeln. Dafür eignet sich aus seiner Sicht in diesen Monaten nichts besser als restriktive Asylpolitik.
Gemeinsam entwickeln sie Pläne, um den Sicherheitsapparat auszubauen. Die Zahl der Planstellen wird aufgestockt, die Beamten mit neuer Munition ausgerüstet, die Kooperation mit der russischen Polizei intensiviert. Kickl verspricht, eine Reiterstaffel bei der Polizei zu schaffen, das soll Stärke signalisieren und ihm schöne Medienbilder liefern. Der ungarische Präsident Viktor Orbán schenkt ihm dafür zwei Pferde. Dann erweist sich die Suche nach weiteren als schwierig, schließlich stellt sich heraus, auch Orbáns Pferde taugen nichts. Sie lahmen.
Um Nachwuchs für die Polizei anzuwerben, lässt das Ministerium gut bezahlte Werbung schalten, auch in rechtsextremen Publikationen. Kickls Ministerium pflegt die FPÖ-Klientel.
„Schwarzes Netz“
Schließlich weist das Innenministerium Polizeidirektionen an, bei Straftaten immer Staatsbürgerschaft und Aufenthaltsstatus der Beteiligten zu nennen, kritische Medien fortan jedoch nur mit den nötigsten Informationen zu versorgen.
Am 19. Januar, vier Wochen nach Amtsantritt, wird Generalsekretär Peter Goldgruber bei einer Staatsanwältin der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft vorstellig. Es sind die Wochen, in denen die neuen Ministerien überhaupt erst mal arbeitsfähig werden müssen.
Goldgruber hat anonyme Schreiben dabei, als er bei der Staatsanwältin vorstellig wird. Dieses Konvolut mit Anschuldigungen wurde noch in der Amtszeit der Vorgängerregierung verschickt, an Ämter, Politiker, es kursiert unter Journalisten und liegt auch der taz vor. Darin: Vorwürfe über sexualisierte Übergriffe im Verfassungsschutz; von alkoholisierten Abteilungsleitern dort ist die Rede, von unterschlagenen Geldern und in Österreich produzierten nordkoreanischen Reisepässen, die an Südkorea ausgehändigt worden sein sollen, von Amtsmissbrauch und Vetternwirtschaft. Vorgänge, über die als das „schwarze Netz“ der ÖVP gesprochen wird. Erstmals seit 17 Jahren hatte nun mit der FPÖ eine andere Partei das Innenministerium übernommen.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Der Verfassungsschutz ist auch für die Bekämpfung von Rechtsextremismus zuständig und bedroht damit Aktivitäten eines Teils der FPÖ-Klientel. Goldgruber fordert die Staatsanwältin auf, wegen der Vorwürfe in dem Konvolut zu ermitteln; sie erwidert, sie sei bereits dran.
Festnahmen und Telefonüberwachung
Später notiert sie einen Satz in ihr Tagebuch, den man in den Ausschussprotokollen nachlesen kann: „Goldgruber: Er habe vom Minister den Auftrag, das BMI aufzuräumen.“
Die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft ist besonders geschützt, formal ist sie dem Justizministerium unterstellt, jedoch nicht berichtspflichtig. Das hat einen Grund: Hier wird gegen die eigenen Leute ermittelt. Bestechlichkeit, Vetternwirtschaft, das alles im politischen Apparat. Und weil das schwierig genug ist, soll es möglichst wenig Möglichkeiten für die Politik geben, Einfluss zu nehmen.
Was in den Tagen nach diesem Treffen passiert, ist das Gegenteil. Aus den Protokollen des Untersuchungsausschusses geht hervor: Eine Mitarbeiterin des Verfassungsschutzes trifft sich mit Goldgruber, auch Innenminister Kickl ist anwesend. Tage später präsentiert Goldgruber die Mitarbeiterin der Staatsanwaltschaft als erste Zeugin.
Später wird bekannt: Auch mit weiteren Zeugen trifft sich Kickl vorab, mindestens eine dieser Personen wird zur Aussage bei der Staatsanwaltschaft von einem Ministeriumsmitarbeiter begleitet. Und derselbe Mitarbeiter regt gegenüber der Staatsanwaltschaft Festnahmen und Telefonüberwachung an.
Goldgruber selbst drängt so sehr auf eine Durchsuchung beim Verfassungsschutz, dass sein Gegenpart im Justizministerium, der dortige Generalsekretär, in einer internen E-Mail später schreibt: „Das ist doch unfassbar; kein Ermittlungsdruck?“
Innenminister Kickl ist über all das informiert.
NS-Verherrlichung
Der Verfassungsschutz ist eine der sensibelsten Behörden Österreichs. Dort werden Informationen über Auslandsbeziehungen gesammelt, Staatsgeheimnisse. Und natürlich nachrichtendienstlich gewonnene Erkenntnisse über Extremisten. In Österreich besonders interessant: Burschenschaftler, Mitglieder der Identitären Bewegung, junge Männer mit besten Verbindungen in die FPÖ.
Wenige Wochen vor der Durchsuchung beim Bundesamt für Verfassungsschutz passiert etwas Erstaunliches: Der Presse werden Liederbücher einer Burschenschaft zugespielt, in der ein hoher FPÖ-Funktionär Mitglied ist. Diese Bücher sind voll von NS-verherrlichenden und antisemitischen Texten. Daraufhin muss der Spitzenkandidat der FPÖ in Niederösterreich sein Amt vorerst niederlegen.
Bei der Hausdurchsuchung in der Burschenschaft Germania finden die Ermittler dann nur Bücher mit geschwärzten Passagen. Der FPÖ-Mann kommt in die Politik zurück.
Generalsekretär Goldgruber erkundigt sich im Zuge dessen beim Chef des Verfassungsschutzes Peter Gridling. Im Protokoll des Untersuchungsausschusses zur Befragung Goldgrubers liest sich das so: „Ich habe ihn gefragt, ob gegen Burschenschaften Ermittlungen geführt werden.“
An dieser Stelle unterscheiden sich die Versionen fundamental. Der Chef des Verfassungsschutzes gibt an, sich erinnern zu können, Goldgruber habe ihn nicht nur nach dem „ob“ gefragt. Auszug aus seiner Befragung im Untersuchungsausschuss:
„Hat Sie Generalsekretär Goldgruber expressis verbis nach Namen von verdeckten Ermittlern gefragt?“
Peter Gridling: „Das ist meine Erinnerung.“
An anderer Stelle heißt es:
„War für Sie die Frage nach den verdeckten Ermittlern überraschend, insbesondere jene danach, wo sie eingesetzt werden?“
Gridling: „Ja, weil es ja im Widerspruch zu dem stand, was ich mit dem Herrn Generalsekretär vorher vereinbart habe: dass so operative Dinge ihn nicht interessieren, damit er nicht in Geruch kommt, Dinge zu verraten.“
Sensible Daten
Gridling leitet Goldgruber schließlich keine Namen weiter. Tage später stehen dann die Polizisten in der Extremismusabteilung des Verfassungsschutzes und beschlagnahmen Unterlagen, Datenträger, Wissen. Die Polizeieinheit ist eigentlich für Straßenkriminalität vorgesehen, ihr Leiter ist selbst ein FPÖ-Politiker. Goldgruber hatte ihn vorgeschlagen.
Die Leiterin der Extremismusabteilung Sibylle G. beschreibt ihre Gedanken über den Moment, als die Ermittler in ihr Büro dringen: „Jetzt ist es so weit. Jetzt ist der Tag X, wo in der Szene immer davon geredet wird: Wenn sie an die Macht kommen, dann hängen sie als Erstes die Staatspolizei auf und als Nächstes kommt die Justiz dran.“
Ein Mitarbeiter aus der IT-Abteilung des Verfassungsschutzes speichert etwa ein Mal im Jahr besonders sensible Daten auf einer externen Festplatte als Back-ups. Das Jahr ist gerade rum, als die Ermittler das Amt durchsuchen, die Festplatte liegt auf seinem Tisch. Darauf: Daten der Zentralen Quellenbewirtschaftung, eine Übersicht also darüber, von wem der Verfassungsschutz seine Informationen bezieht; Inhalte der „Police Working Group on Terrorism“, ein EU-Netzwerk, über das Informationen ausgetauscht wurden. Und auch Daten, die europäische Geheimdienste miteinander ausgetauscht hatten, sind darauf – die sogenannte Neptun-Kommunikation.
Die Ermittler nehmen diese Festplatte mit. Unversiegelt. Sie ist nicht einmal mit einem Passwort geschützt.
Im November 2018 gelangt dann ein streng vertrauliches Dokument der finnischen Behörden an die Öffentlichkeit. Sie bitten ihre Partner um Auskunft zu einem russischen Diplomaten, den sie für einen Agenten halten. „Except BVT Vienna“, steht da fett, „außer für den Verfassungsschutz in Wien“. Dass es überhaupt nach Österreich gelangt, war ein Versehen. Die finnischen Behörden trauen den Österreichern nicht mehr.
Im Berner Club, einem Netzwerk der europäischen Inlandsgeheimdienste, ist Österreich nun Außenseiter. Die Niederlande und Großbritannien äußern ihre Bedenken, mit Österreich zusammenzuarbeiten, und Verfassungsschutzchef Gridling bleibt nichts anderes übrig, als quer durch Europa zu reisen, um für Vertrauen zu werben.
Expertise aus Deutschland
Nicht nur die Befürchtung, die rechten Netzwerke der FPÖ könnten direkt aus dem Verfassungsschutz heraus an Information gelangen, stört die internationale Zusammenarbeit. Auch die gut dokumentierte Nähe der FPÖ zu Wladimir Putin lässt andere Geheimdienste zögern, mit den Österreichern Informationen zu teilen.
Erst vergangene Woche hat der Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz Thomas Haldenwang laut einem Bericht der Welt dem parlamentarischen Kontrollgremium des Deutschen Bundestags gesagt, es bestünden erhebliche Risiken in der Zusammenarbeit wegen der möglichen Datenweitergabe nach Russland.
Kickl sagt im Untersuchungsausschuss, die Razzia im Verfassungsschutz sei nicht seine „Hauptbeschäftigung“ gewesen. Im Alltag eines Ministers gehe es „um hunderttausend andere Dinge, und nebenher kriegt man dann halt auch noch einmal eine Information über das, was im Zusammenhang mit dem BVT läuft“.
Dieser und viele weitere Artikel wurden durch finanzielle Unterstützung des Auslandsrecherchefonds ermöglicht.
Generalsekretär Goldgruber sagt: „„Von Anerkennung ist in vielen Bereichen dann weniger zu bemerken, da gibt es dann eher sehr kritische Fragen in dem Zusammenhang – habe ich so zur Kenntnis genommen.“
Ein Mitarbeiter des Verfassungsschutzes, der von der Staatsanwaltschaft des Amtsmissbrauchs verdächtigt worden war, sagt: „Man fühlt sich gedemütigt.“
Mitten in der Affäre, Ende Mai 2018, plant Kickl, den Verfassungsschutz neu aufzustellen, die nachrichtendienstlichen Befugnisse auszuweiten, Ermittlungen zuzulassen, auch ohne eindeutige Verdachtslage. So berichtet es die österreichische Zeitung Die Presse. Kickl holt sich dafür aus dem traditionell FPÖ-dominierten Heeres-Nachrichtenamt, dem österreichischen Pendant zum BND, einige Mitarbeiter. Und auch Expertise aus Deutschland, neun Monate für insgesamt 79.000 Euro. Der Berater heißt Klaus-Dieter Fritsche und war früher Geheimdienstkoordinator im Bundeskanzleramt. Einer der obersten Geheimnisträger des Landes.
Keine Erinnerung
Dienstagvormittag nach der Videoveröffentlichung in der Wiener Hofburg, am Vortag wurde Kickl als Innenminister entlassen. Ein langer Saal ohne Fenster, mit niedriger Decke, hier saßen Kickl und Goldgruber, Verfassungsschutzchef Gridling, die Leiterin der Extremismusabteilung, die Staatsanwältin und all die anderen, die der Untersuchungsausschuss seit 38 Sitzungstagen befragt hat. Den Parlamentariern bleibt jetzt kaum noch Zeit, aufzuklären. Löst sich das Parlament auf, endet auch ihre Arbeit.
Die Antworten im Untersuchungsausschuss haben eines gezeigt: Die Widerstandskräfte eines Rechtsstaats sind mitunter schwächer, als man hofft. Es braucht nicht ein geniales Mastermind, um einen Rechtsstaat entscheidend zu schwächen. Es braucht nur einen Minsterialbeamten, der sich an der falschen Stelle einmischt; eine Staatsanwaltschaft, die sich dieser Einmischungen nicht verwehrt; es braucht Amtsmitarbeiter, die nicht um jeden Preis verhindern, dass geheime Daten in Plastiktüten weggetragen werden. Es braucht Abteilungsleiter und Chefs, die Vetternwirtschaft nicht begegnen. Und einen Minister, der Misstrauen und Missgunst sät, um seine politische Agenda durchzudrücken.
Passiert das nur unter einer Partei wie der FPÖ?
Im Untersuchungsausschuss geht es an diesem Dienstag um das Konvolut aus Anschuldigungen gegen Verfassungsschutzmitarbeiter, um das angebliche „schwarze Netz“, die ÖVP-Seilschaften innerhalb des Innenministeriums. Dessen vermeintliche Existenz hatte die Razzia überhaupt erst ausgelöst. Dazu muss sich heute ein Spitzenbeamter befragen lassen, der der Kopf des schwarzen Netzwerks gewesen sein soll.
Die Abgeordneten lesen ihm SMS und E-Mails vor, in denen er sich als damaliger Personalchef über Postenbesetzungen austauschte. In einer Mail tauscht er sich mit einem „Schützling“ eines ÖVP-Mannes über eine Planstelle aus, die noch nicht einmal ausgeschrieben war. Daran kann der Spitzenbeamte sich nun nicht mehr erinnern. Die Abgeordneten sind genervt und kündigen eine Anzeige wegen Falschaussage an.
Während sich die Parlamentarier bemühen, ihre Arbeit rasch zu beenden, weigert sich der Innenminister noch sein Amt zu verlassen. Er nutzt die Zeit, bevor sein Nachfolger am Mittwoch ernannt wird, um seine Agenda durchzupeitschen, sein letztes Gesetz: die Herabsetzung des Mindestlohns für Geflüchtete auf 1,50 Euro.
Neue Polizeidienststelle
Und auch in den Stunden, bevor das Ibiza-Video veröffentlicht wurde, war Kickl nicht untätig. Intern ist am Freitag, den 17. Mai die Nachricht längst bekannt, dass das Video öffentlich werden wird. In so einer Situation weiß jeder in der Politik: Es muss Konsequenzen und Rücktritte geben.
Kickl ruft noch vor der Veröffentlichung den Bundespräsidenten an. Was er sagt, berichtet er später selbst auf Facebook: Er habe eine Entscheidung über eine Personalie getroffen. Sein engster Vertrauter, der Generalsekretär Goldgruber, soll einen lukrativen Posten bekommen: Generaldirektor für innere Sicherheit. Die offizielle Ernennung lehnt der Bundespräsident ab. Vorübergehend aber kann ihn der scheidende Minister berufen, das erlaubt das Gesetz. Und das tut Kickl.
Noch am Montag dieser Woche bezieht Peter Goldgruber das Büro des Generaldirektors. Medienwirksam kündigt er an, eine neue Polizeidienststelle am Wiener Praterstern zu errichten. Nun darf er qua Amt über die Polizei und das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung herrschen. Jenes Amt also, dessen Durchsuchung er ein Jahr zuvor ausgelöst hatte.
Am Donnerstag zieht ihn der vorübergehend eingesetzte Innenminister, ein Ex-Präsident des Obersten Gerichtshofs, wieder von dieser Position ab.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Misogynes Brauchtum Klaasohm
Frauenschlagen auf Borkum soll enden
SPD im Vorwahlkampf
Warten auf Herrn Merz