piwik no script img

Oberbürgermeister zur Flüchtlingspolitik„Wir können nicht mehr helfen“

Das Bündnis „Städte Sicherer Häfen“ ist mit der solidarischen Aufnahme von Geflüchteten an der Belastungsgrenze, sagt Potsdams Oberbürgermeister.

Notunterkunft in einer Turnhalle in Friedrichshafen für Geflüchtete Foto: Felix Kästle/dpa
Dinah Riese
Interview von Dinah Riese

taz: Herr Schubert, vor dem Flüchtlingsgipfel im Kanzleramt ist keine Einigung in Sicht: Länder und Kommunen wollen mehr Geld, der Bund will nicht mehr zahlen. Wie diskutieren Sie im Bündnis „Städte Sicherer Häfen“ die aktuelle Lage?

Mike Schubert: Unser Bündnis mit seinen aktuell 121 Mitgliedern versteht sich als Wertegemeinschaft mit der grundsätzlichen Bereitschaft, Menschen aufzunehmen, die aus Seenot gerettet wurden oder in überfüllten Lagern an den EU-Außengrenzen stranden. Und zwar auch zusätzlich zu den regulären Verteilungsschlüsseln. Zu dieser Haltung stehen wir: Wer Platz hat, soll mehr aufnehmen dürfen. Allerdings gibt es selbst in unserem Bündnis so gut wie keine Stadt mehr, die sagt: Ich könnte.

Ist die Lage tatsächlich so prekär?

Die solidarische Aufnahme ist die Gründungs-DNA unseres Bündnisses. Die aktuelle Situation ist deshalb äußerst schwierig für uns. Wir haben gesagt, dass wir helfen wollen, und müssen jetzt feststellen: Wir können es nicht mehr. Leider kommt das nicht ganz überraschend.

Karoline Wolf
Im Interview: Mike Schubert

50 Jahre, ist seit 2018 Oberbürgermeister der brandenburgischen Landeshauptstadt Potsdam. Der SPD-Politiker koordiniert das 2019 gegründete Bündnis „Städte Sicherer Häfen“.

Die Überlastung hat sich angekündigt?

Bund und Länder haben seit den großen Fluchtbewegungen der Jahre 2015/16 keine Lösungen gefunden. Die Kommunen und auch unser Bündnis rufen seit Jahren nach gerechten Verteilungsschlüsseln und nach Unterstützung für echte Integrationsarbeit. Aber wir müssen das vom Katzentisch aus tun. Im Kanzleramt treffen sich der Bundeskanzler und die Länderchefs. Die kommunalen Spitzenverbände sitzen wieder nicht direkt am Tisch. Dabei kommen doch hier in den Kommunen die Menschen an, hier bauen sie sich eine neue Heimat auf.

Was erwarten Sie von dem Treffen?

Ich bin ehrlich gesagt ernüchtert, wie beide Seiten sich seit Tagen um die Ohren hauen, wer schon wie viel bezahlt hat. Wir brauchen pragmatische Lösungen. Ich fürchte, dass es wieder keine Einigung geben wird. Die Sache wird vertagt, und wir verlieren wieder Wochen. Auf Bund-Länder-Ebene wirkt das Thema noch ziemlich abstrakt. Bei uns vor Ort ist es schon seit Monaten sehr konkret und ernst.

Können Sie das erläutern?

Nehmen wir Potsdam: Von 2013 bis 2021 haben wir insgesamt 3.250 Geflüchtete aufgenommen. Allein im Jahr 2022 waren es 2.700. Das ist eine Verzehnfachung im Vergleich zum Vorjahr. Im April dieses Jahres hatten wir noch 500 freie Plätze – rechnen aber gleichzeitig mit 1.500 Menschen, die uns noch zugewiesen werden. Gerade stellen wir Container auf. Wir wollen keine Turnhallen fremd nutzen.

Wie reagieren die Menschen?

Allein in den vergangenen Wochen haben wir auf sechs Bürgerversammlungen über Standorte für neue Unterkünfte informiert. Die Menschen haben natürlich Fragen: Wie soll das funktionieren mit Kita, Schule und so weiter. Ich kann für Potsdam sagen: Die Diskussion ist ganz überwiegend geprägt vom Wunsch, gemeinsam Lösungen zu finden. Aber wir kommen mit unseren kommunalen Haushalten an Grenzen. Umso problematischer ist, dass die Debatte sich gerade ausschließlich um Unterkünfte dreht.

Wieso?

Weil damit noch lange keine Integration gelingt. Was ist mit den Kosten, wenn eine halbe Schulklasse mehr gebraucht wird, oder eine neue Gruppe in der Kita? Das hängt alles an den Kommunen.

Die Organisation Seebrücke kritisiert, unionsgeführte Bundesländer würden das Engagement vieler Kommunen „strategisch“ ausblenden, „um ihre eigene Abschottungsagenda voranzutreiben“. Sehen Sie das auch so?

Ich sehe durchaus viel Einigkeit quer durch die Parteienlandschaft der Länderchefs. Wir stehen nachdrücklich zum zivilgesellschaftlichen Engagement der Seebrücke: Niemand soll gezwungen sein, auf der Flucht über das Mittelmeer sein Leben zu riskieren. Allein in diesem Jahr sind schon 600 Menschen zu Tode gekommen. Als Oberbürgermeister in Potsdam stelle ich mich entschieden gegen die Legenden von irgendwelchen Pull-Faktoren. Aber im Bündnis lassen wir parteipolitische Differenzen außen vor. Wir haben eine große Aufgabe zu bewältigen, das schaffen wir nicht in der Konfrontation. Deswegen wirken wir zusammen, egal, wer welches Parteibuch hat.

Deutschland will sich auf EU-Ebene für Ankunftszentren an den Außengrenzen und eine freiwillige Verteilung einsetzen. Richtig so?

Als Bündnis werben wir seit unserer Gründung für eine solidarische Verteilung und gemeinsame Standards in Europa. Ich persönlich sehe aber nicht, warum wir gerade jetzt weiterkommen sollten. Wir erleben die gleiche Diskussion zum zwanzigsten Mal. Deswegen befasse ich mich mit diesen Plänen nur beschränkt. Ich bin da durchaus desillusioniert – wäre aber froh, wenn man mich an der Stelle positiv überrascht.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

11 Kommentare

 / 
  • Das ist eine sog. Association Fallacy.

    de.wikipedia.org/w...ssociation_Fallacy

    Ob die vorgebrachten Argumente auch von der AfD aufgriffen werden, sagt noch nichts darüber aus, ob sie richtig oder falsch sind.

  • Welche neue Gruppe in der Kita? Welche neue Schulklasse? Es gibt gerade Erzieher und Lehrermangel. Und oft auch Platzmangel, räumlich gesehen. Die Betreuungsschlüssel in der Kita sind ohnehin schon schlecht und ausgereizt, da kann man auch nicht mehr Kinder in die Gruppen pfropfen, ohne dass es für alle noch schlechter wird. Die Schulklassen sind oft auch voll. Es fehlen Lehrer, und die vorhandenen haben weder Zeit für Integration noch Inklusion.

  • @R.A., @GYAKUSOU, @WINNETAZ

    Sie machen alle den Resonanzboden für die AfD. Ob gewollt oder ungewollt, das kann ich nicht sagen.

  • Menschlichkeit und Möglichkeit.



    Nicht alles was wünschenswert ist, ist machbar.

    • @R.A.:

      Die Würde des Menschen ist unantastbar, falls denn gerade möglich und machbar und natürlich auch nur unter Finanzierungsvorbehalt.



      Asyl ist Grund- und Menschenrecht und kein optionaler Luxus den man Verfolgten je nach Stimmung und Kassenlage zugestehen kann oder eben auch nicht.

      • @Ingo Bernable:

        Wenn das Problem mit Geld lösbar wäre, wäre es keins. Es ist aber technisch und personel nicht lösbar. Wenn Politiker so tun, als ob es trotzdem funktioniert, geht es auf Kosten der Qualität. Die Klage über mangelnde Qualität ließt man in der Zeitung, wird aber von der Politik mit geschickter Rhetorik abmoderiert.

      • 6G
        652797 (Profil gelöscht)
        @Ingo Bernable:

        Recht auf Asyl ist aber auch kein Wunschkonzert, die Länderwahl ist kein Recht.

  • Und was ist die Lösung? Wo soll der Staat die Lehrer/Betreuer/Kita-Mitarbeiter hernehmen, damit die Integration gelingt? Die benötigten Wohnungen?

    Und beim Begriff "faire Verteilung" kann ich wie immer nur den Kopf schütteln. Es wird keine faire Verteilung geben - nicht in Deutschland, nicht in Europa. Vor allem weil sich Menschen nicht fair verteilen lassen. Die wollen in die Ballungsgebiete, an Orte, wo bereits eine Community von Landsleuten ist. In die wirtschaftsstarken Regionen. Usw.

    Nicht nach Bulgarien, Ungarn oder Rumänien, und nicht in ein kleines Dorf in Brandenburg.

    • @gyakusou:

      Das ist richtig und wird total ignoriert.

    • @gyakusou:

      Das ist alles kein Problem. Durch die aussterbenden Gewerbe in den Innenstädten werden genug Flächen für Wohnungen frei. Und die für eine Integration notwendigen Fachkräfte werden einfach aus dem Ausland, bevorzugt Süd- und Mittelamerika, importiert. Wir entziehen damit zwar Fachkräfte den Ländern, die sie selbst dringend brauchen....aber was solls.

    • @gyakusou:

      Genau so ist es. Ein kleines Dorf irgendwo in Rumänien bietet für Flüchtlinge aus Syrien genauso Sicherheit wie Potsdam. Es ist aber völlig klar, wohin die Menschen ziehen wollen und wohin nicht. Und das illustriert auch sehr drastisch, dass ein Pull-Faktor selbstverständlich vorhanden ist, auch wenn der OB von Potsdam den als "Legende" bezeichnet.