Notfallsanitäter über Triage: „Im Spannungsfeld der Medizin“
Die Kliniken geraten an ihre Grenzen. Als Notfallsanitäter und Berater für klinischen Katastrophenschutz weiß Philipp Polster, was Triage bedeutet.
taz: Herr Polster, das Bundesverfassungsgericht hat vergangene Woche den Bundestag verpflichtet, Menschen mit Behinderung im Fall einer Triage vor Diskriminierung zu bewahren. Wie verändert das die tägliche Arbeit in den Krankenhäusern?
Philipp Polster: Es gibt einen entscheidenden Satz, und da zitiere ich einmal die Pressemeldung: Es müsse sichergestellt sein, dass „allein nach der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit entschieden wird“. Das heißt, die akute klinische Betrachtung wird in den Vordergrund gehoben, und das ist ganz essenziell.
Sie können nicht sagen, der Mensch hat eine Behinderung, vielleicht eine Komorbidität, und deswegen bekommt er keinen Platz. Dass das nicht geht, ist absolut zu befürworten. Falls aber akute Symptome, wie zum Beispiel Nierenversagen bei Diabetes, die Überlebenswahrscheinlichkeit in diesem Moment senken, dann dürfen die auch berücksichtigt werden. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob man das komplexe Thema Triage in ein Gesetz packen kann. Da habe ich wirklich Angst vor.
Inwiefern könnte das schwierig sein?
Triage ist immer eine sehr, sehr dynamische Situation. Wir arbeiten hier in einem absoluten Spannungs- und Grenzfeld der Medizin. Wenn die Oberärztinnen und Oberärzte der Intensivstationen im Triageprozess eine Fehlentscheidung treffen, dann haben wir nicht einen Toten, sondern zwei Tote. Das ist eine Aufgabe, die zu den fürchterlichsten gehört, die Sie haben können.
Sie sind selbst in der Politik bei den Linken aktiv. Auf wen sollte bei der Gesetzgebung gehört werden, damit das Gesetz der Realität angemessen ist?
Die müssen auf die Fachverbände hören, wie die Divi, die Deutsche Gesellschaft für Intensivmedizin. Das sind Praktiker. Aber ich befürchte, dass man zu viele Interessengruppen in die Entscheidung einbindet und damit sehr viele Sonderlösungen einbaut. Das könnte dann zu einem Gesetz führen, das die Kliniken eben nicht schnell anwenden können. Dann besteht die Gefahr, dass sie mehr Fälle ablehnen als bisher. Hauptsache, man kann ihnen keine Übertretung an anderer Stelle nachweisen.
35 Jahre alt, Fachberater für klinischen Katastrophenschutz und Notfallsanitäter. Er ist seit 19 Jahren im Rettungsdienst tätig. Außerdem ist er Mitglied im Kreisvorstand der Partei Die Linke in der Region Schwarzwald-Baar-Heuberg.
Wie viel Zeit haben die verantwortlichen Ärzt*innen, um zu entscheiden, wen sie behandeln und wen nicht?
Zur Triage lässt sich das nicht so einfach sagen, denn es gibt nicht die eine Triage. Im Notfall haben sie unter 10 Minuten. Typisches Beispiel: Wir sind im Rettungsdienst irgendwo draußen und haben einen Patienten übernommen, der wird beatmet. Dann können wir keine Stunde warten, bis sich das Krankenhaus überlegt hat, ob es den Patienten nimmt. In dem Moment müssen die Kliniken sehr schnell entscheiden.
Was meinen Sie damit, dass es nicht „die eine Triage“ gibt?
Vereinfacht können wir von drei Arten sprechen: Ex-ante-, Ex-post- und Präventiv-Triage. Bei der Ex-ante-Triage haben Sie zum Beispiel nur für fünf Patienten Behandlungsmöglichkeiten, aber müssten zehn Patienten behandeln. Dann müssen Sie entscheiden: Wer kriegt jetzt diese fünf verfügbaren Plätze? Diese Situation ist aber gar nicht so häufig, wie man denkt. Es ist selten, dass so viele Patienten zeitgleich ein Intensivbett brauchen.
Was passiert bei der Ex-post-Triage?
Da sehe ich die viel größere Gefahr der Benachteiligung. Es geht nicht um einen Akutfall, sondern Sie haben zum Beispiel einen Patienten seit 14 Tagen auf der Intensiv und ihm geht es eigentlich schon wieder ganz gut. So, und jetzt kriegen Sie einen jungen Patienten rein, von einem Verkehrsunfall. Er wird sicher sterben, wenn Sie ihn jetzt nicht aufnehmen.
Eigentlich wollten Sie den ersten Patienten noch zwei Tage auf der Intensivstation lassen, aber schieben ihn jetzt früher auf die Normalstation und hoffen, er wird es schon machen. Und wenn nicht, dann nehmen Sie ihn wieder auf und schieben wen anders auf die Normalstation. Da können sich ganz krasse Bettenkarusselle entwickeln. Diese Ex-post-Triage könnte auch dazu führen, dass Therapien eingestellt werden. Das wäre aus meiner Sicht ein unfassbar unethischer Vorgang, auch wenn ich ihn moralisch verstehen kann. Aber das ist zum Glück auch schon mit der derzeitigen Gesetzeslage nicht machbar.
Sie sprachen noch von einer dritten Art der Triage?
Die sogenannte Präventiv-Triage. Das sind die Fälle, in denen Sie gar keinen zweiten Patienten haben, sondern Sie sagen vorher: Den 85-Jährigen nehme ich gar nicht auf, damit ich noch ein Bett habe, falls im Haus etwas passiert oder Ähnliches. Offiziell gibt es das in Deutschland nicht. Ich kann Ihnen aber sagen, ich habe selbst schon Fälle erlebt, wo das vorgekommen ist. Das ist natürlich ein ganz massives Problem.
Wie hat sich das Thema Triage durch die Pandemie verändert?
Oft haben wir keinen schnellen Plan B mehr, weil es zu wenige Plätze gibt. Wenn wir früher eine Absage von einem Krankenhaus bekamen, dann haben wir das nächste angerufen. Das war dann zwar schlecht für die Patienten, weil wir vielleicht eine halbe Stunde länger fahren mussten.
Aber jetzt bekommen wir von mehreren Krankenhäusern die Antwort: „Wir können eure Patienten nicht aufnehmen.“ Mein persönlicher Rekord sind neun Krankenhäuser. Da reden wir nicht mal von Intensivpflegepatienten, sondern von normalen Patienten. Der Patient mit den neun Krankenhäusern hatte eine ganz normale Oberschenkelfraktur, wie sie jeden Tag hunderte Male in Deutschland vorkommt.
Ich hatte das eigentlich so verstanden: Solange im Schnitt mehr als zwei Intensivbetten pro Standort frei sind, können alle Notfälle behandelt werden. Aktuell liegen wir doch darüber?
Auch das kann man so pauschal nicht sagen. Ein neurologisches Bett auf einer Intensivstation wird Ihnen für den chirurgischen Patienten wenig bringen. Oder Sie können keinen Covid-Patienten mit einem Nicht-Covid-Patienten in ein Zweibettzimmer reinlegen.
Weil der sich anstecken könnte?
Genau. Unter Umständen hat der Nicht-Covid-Patient noch einen anderen Keim. Dann haben Sie wieder ein Problem. Oder Sie haben kein Beatmungsbett für einen beatmungspflichtigen Patienten. Nicht jedes Intensivbett kann als Beatmungsbett betrieben werden, dafür fehlt oft einfach das Personal.
Gerade die letzten Betten sind häufig keine Beatmungsbetten. Ein Beispiel aus dem aktuellen Alltag: 55 Jahre alt, Herzinfarkt bekommen vor Weihnachten, erfolgreich wiederbelebt. Was machen Sie mit dem? Der ist beatmungspflichtig. Da ist es schlecht, wenn Sie im Landkreis zwar noch fünf Intensivbetten haben, aber keins davon Beatmungsmöglichkeiten hat. Wir sollten uns nicht ausschließlich an freien Betten orientieren. Es ist immer ein ganz, ganz schwieriges Spiel, das richtige Bett zu finden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Kaputte Untersee-Datenkabel in Ostsee
Marineaufgebot gegen Saboteure
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
HTS als Terrorvereinigung
Verhaftung von Abu Mohammad al-Jolani?