Notaufnahmelager Marienfelde: Ankommen früher und heute
Seit über 60 Jahren kommen Schutzsuchende in Marienfelde an – früher kamen sie aus der DDR, heute aus Syrien, dem Irak und Afghanistan.
Es ist nicht 2015 und der Politiker auch kein Vertreter der AfD, wie man vielleicht vermuten könnte. Es ist der 14. April 1953 und der Politiker ist Bundespräsident Theodor Heuss. Er hält eine Rede zur Einweihung des Notaufnahmelagers Marienfelde im Süden von Berlin. Bis 1990 werden hier 1,35 Millionen Geflüchtete und Übersiedler*innen aus der DDR ankommen und ihre ersten Tage und Wochen in der Bundesrepublik verbringen.
An diese Geschichte erinnert die Dauerausstellung „Flucht im geteilten Deutschland“ in der heutigen Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde. Dass die Worte des damaligen Bundespräsidenten an die mediale Debatte um Flucht und Migration seit dem Sommer 2015 erinnern, ist kein Zufall. Heuss' Rede von damals war im Heute Teil der performativen Führung „Ortstermin Marienfelde. Die rettende Insel“.
Sie basiert auf einer Produktion, die 2015 am Maxim Gorki Theater entstand und setzt sich mit der Geschichte des Notaufnahmelagers vor dem Hintergrund der aktuellen Flüchtlingssituation auseinander. Denn in Marienfelde kommen nach wie vor Geflüchtete an. Seit Dezember 2010 betreibt der Internationale Bund Berlin-Brandenburg (IB) hier das Übergangswohnheim Marienfelder Allee. Über 700 Menschen, unter anderem aus Syrien, Tschetschenien und Afghanistan, leben hier auf 40.000 Quadratmetern.
Alte Architektur, neue Aufnahmeprogramme
Das Übergangswohnheim besteht aus acht Wohnblöcken des ehemaligen Notaufnahmelagers. Weitere Gebäude sind heute Mietshäuser. Optisch unterscheiden sie sich kaum von den Wohnblöcken im Übergangswohnheim, aber sie liegen außerhalb des Zauns, der das Wohnheimgelände umschließt. Jeder Wohnblock hat drei Etagen und mehrere Treppenaufgänge. An jedem Treppenabsatz liegen zwei Wohnungen. Die meisten sind 3-Raum-Wohnungen und circa 50 Quadratmeter groß.
„Das ist zwar alter Standard, 1953 gebaut, aber die Unterbringung mit eigenem Bad und Küche ist immer noch besser als in anderen Gemeinschaftsunterkünften, wo sich die Menschen Mehrbettzimmer teilen müssen und nur Gemeinschaftstoiletten und -küchen vorhanden sind“, sagt die Leiterin des Wohnheims, Uta Sternal. Deswegen nehme der IB hier auch manchmal mehr als 700 Menschen auf.
Die meisten von ihnen sind über das Resettlement des UNHCR oder über humanitäre Aufnahmeprogramme nach Deutschland gekommen. „Durch solche Programme müssen Menschen nicht den Weg über das Mittelmeer und mit dem Boot machen“, erklärt Sternal. Außerdem erhalten die Geflüchteten von Anfang an eine befristete Aufenthaltserlaubnis und müssen nicht das Asylverfahren durchlaufen. „Sie müssen nicht bangen und können sich sofort integrieren“, sagt Sternal – und fügt hinzu, dass die Kontingente für diese Aufnahmen jedoch zu niedrig seien.
Der angespannte Wohnungsmarkt in Berlin erschwere es den heutigen Bewohner*innen, das Übergangswohnheim zu verlassen. Es gibt Familien, die seit Jahren auf dem Gelände leben. Früher verbrachten die Geflüchteten aus der DDR hier im Durchschnitt etwa zehn Tage, um das Notaufnahmeverfahren zu durchlaufen. Es bestand aus zwölf Stationen. Dazu zählte eine ärztliche Untersuchung, die polizeiliche Anmeldung und ein Gespräch mit den Geheimdiensten der USA, Frankreichs und Großbritanniens. In den Gesprächen versuchten diese Straffällige und Spione zu entlarven und Informationen über die DDR von den Geflüchteten zu erhalten.
Beim fürsorgerischen Dienst erhielten die Geflüchteten Freifahrscheine für die öffentlichen Verkehrsmittel und Essensmarken für die Kantine. Auf dem Speiseplan standen am 17. September 1961 Kotelett, Gemüsebeilage und Salzkartoffeln. Zusätzlich gab es einhundert Gramm grobe Mett- oder Streichmettwurst, einen Beutel Gebäck, Tee und für Kinder einen halben Liter Kakao, außerdem täglich bis zu 400 Gramm Brot und 50 Gramm Fett.
Eine Lagerordnung regelte das Zusammenleben. Sie verbot unter anderem das Fotografieren sowie das Abnehmen des Stroms im Lager mit elektrischen Geräten, wie Radios, und das Mitnehmen von Hunden. Die musste man vorher im Tierheim in Lankwitz abgeben.
Symbol für Flucht und Migration in Deutschland
Ab 1964 kamen neben Geflüchteten aus der DDR auch Aussiedler*innen in das Notaufnahmelager Marienfelde. Auch nach dem Ende der DDR wurde es dafür von der Zentralen Aufnahmestelle des Landes Berlin genutzt. Wegen der sinkenden Zahl von Aussiedler*innen wurde es im Juni 2010 geschlossen. Weil die Zahl der Asylbewerber*innen jedoch stieg, übernahm der Internationale Bund im Dezember 2010 den Betrieb.
An das Notaufnahmelager für Geflüchtete aus der DDR erinnern vor allem Architektur und Ausstattungselemente, etwa die gusseisernen Wannen in den Bädern der Bewohner*innen. Führungen und Ausstellungen in der Erinnerungsstätte tragen dazu bei, die Geschichte dieses historischen Ortes lebendig zu halten.
Theodor Heuss
Seit 1953 beherbergt das Notaufnahmelager Marienfelde fast durchgehend Schutzsuchende. Damit steht Marienfelde symbolisch für die vielseitige Geschichte von Flucht und Migration in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg. In der Biografie von Uta Sternal vereinen sich zwei dieser Geschichten: Sternals Vater kam 1958 über das Notaufnahmelager Marienfelde in die Bundesrepublik, sie ist heute Leiterin des Übergangswohnheims.
Der angespannte Wohnungsmarkt und das strenge Aufnahmeverfahren – vieles ist heute wie damals. In seiner Rede zur Einweihung des Notaufnahmelagers sagte Heuss 1953, an die Menschen in der DDR gerichtet: „Wir vergessen euch nicht. Ihr seid immer in unserem Bewusstsein, weil wir mit euch eins sind.“ Dieser Zusage können sich viele Schutzsuchende heute nicht mehr sicher sein.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei VW
Massiver Gewinneinbruch bei Volkswagen
VW-Vorstand droht mit Werksschließungen
Musterknabe der Unsozialen Marktwirtschaft
Verfassungsgericht entscheidet
Kein persönlicher Anspruch auf höheres Bafög
Kamala Harris’ „Abschlussplädoyer“
Ihr bestes Argument
Zu viel Methan in der Atmosphäre
Rätsel um gefährliches Klimagas gelöst
Nahostkonflikt in der Literatur
Literarischer Israel-Boykott