Neues Urteil zur Altenpflege: Würde nur dank Opfer
Pflege übernehmen in einem marktbasierten System fast immer Frauen. Ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts macht das Problem daran sichtbar.
M ehr als 4 Millionen Menschen in Deutschland sind pflegebedürftig. Demografiebedingt wird diese Zahl in den kommenden Jahrzehnten steigen. Steigen wird auch der Anteil unseres Lebens, den wir in Abhängigkeit von der Fürsorge anderer verbringen.
Das ist an sich keine schlechte Nachricht, sondern gehört zum Menschsein dazu. Den Unterschied macht, ob man das Leben als Pflegebedürftige*r in Würde verbringen kann. Das gilt nicht nur im Alter, sondern auch für behinderte und chronisch kranke Personen.
Die schlechte Nachricht ist, dass uns dafür der Masterplan fehlt. Stattdessen haben wir eine Behelfslösung, die uns zwischen den Fingern zerrinnt: Gender.
Pflege und Betreuung übernehmen in großer Mehrheit Frauen. Frauen, die dafür Opfer bringen. Weil sie in entsprechenden Berufen mit schlechter Bezahlung Armut riskieren. Weil sie als Angehörige gratis Jahre ihres Lebens pflegebedürftigen Eltern, Partner*innen oder Kindern widmen. Oder weil sie als ausländische Betreuungskräfte einem grauzonigen, zwischenstaatlichen Markt ausgeliefert sind.
Ein Tag hat 24 Stunden
Ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts hat kürzlich dieses Problem endlich sichtbar gemacht. Ausländische Betreuungskräfte müssen, wenn sie 24-Stunden-Bereitschaft in einem Privathaushalt leisten, auch 24 Stunden bezahlt bekommen. In Deutschland sind das mehrere Hunderttausend, meist aus osteuropäischen Ländern.
Wo ich herkomme, ein mittelständischer Vorort im Südwesten, nannte man dieses Pflegeregime „eine Polin holen“. Mit diesem geflügelten Wort bedienten wir uns bei den Machtkategorien Gender und Nation, um nicht sagen zu müssen: „Wir bezahlen jemandem 8 Stunden Mindestlohn für 24 Stunden Dienst.“
Das darf jetzt also nicht mehr sein, und das ist eine handfeste Krise. Denn eine faire Bezahlung für sogenannte Live-in-Betreuerinnen, mit Arbeitsbedingungen, die man für sich und seine Lieben einfordern würde, kann sich kaum jemand leisten. Heimpflege ist teuer, wenn man die Wahl haben möchte.
Ein Entscheid eines Arbeitsgerichts, der unumstritten sein sollte, zeigt: In Würde leben funktioniert bei uns nur, indem sich Frauen aufopfern. Das wird offensichtlicher, je mehr Frauen sich aus dem Bild der aufopferungsvollen Heiligen befreien. Ohne Patriarchat sitzen wir buchstäblich in der Scheiße.
Grundversorgung statt Markt
Das „Holen der Polin“ ist bereits ein Lifehack aus der Hölle für genau diesen Trend gewesen. Das ist kein Plädoyer, dass Männer sich gleichermaßen aufopfern sollen. #feminis #SelbstausbeutungFuerAlle – nein danke. Es ist ein Plädoyer für eine gemeinschaftlich getragene berufliche Pflege, eine, die kein Markt ist, irgendwo zwischen Liebe, Schuldgefühl und dem östlichen Ausland. Sondern eine Grundversorgung.
Das heißt Umverteilen. Und das klingt radikal, ist es aber nicht, weil wir jetzt schon umverteilen: die Lebensenergie von Frauen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Förderung von E-Mobilität
Habeck plant Hilfspaket mit 1.000 Euro Ladestromguthaben
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen
Scholz zu Besuch bei Ford
Gas geben für den Wahlkampf