9. November, diesmal: 1969: Der Tabubruch

Vor 50 Jahren scheiterte ein Attentat auf das Jüdische Gemeindehaus in Berlin. Die Täter waren Linksterroristen, die Bombe kam vom Verfassungsschutz.

Das Jüdische Gemeindehaus im Juni 2019 Foto: imago

Angriffe auf jüdische Einrichtungen gab es im Nachkriegsdeutschland immer wieder. Was sich jedoch am 9. November 1969 im Jüdischen Gemeindehaus in der Charlottenburger Fasanenstraße in Westberlin abspielte, war ein Tabubruch gleich in mehrfacher Hinsicht. Denn bei diesem Attentat vor fünfzig Jahren handelte es sich um einen versuchten Bombenanschlag, der nicht von Rechts-, sondern von Linksradikalen verübt wurde. Und das auf einer Gedenkfeier für die Opfer der Reichspogromnacht vom 9. November 1938.

Ein Unbekannter hatte sich unter die 250 Teilnehmer gemischt und die in einen Trenchcoat eingewickelte Bombe in der Bodenöffnung eines Coca-Cola-Automaten versteckt. Da jedoch der Glühdraht der Zündpille korrodiert war, konnte die Explosion nicht ausgelöst ­werden. Wäre das geschehen, dann hätte es nach Darstellung des zu­ständigen Kriminaltechnikers eine Vielzahl von Opfern gegeben.

Es hat lange gedauert, bis die Täterschaft dieses Anschlagsversuchs endlich geklärt war. Für viele 68er-Linke, die sich ja gerade wegen der unaufgearbeiteten NS-Vergangenheit politisiert und zum Teil auch radikalisiert hatten, schien es schwer vorstellbar zu sein, dass das jemand aus ihren eigenen Reihen getan haben könnte. Und derjenige, der sich letztlich als Drahtzieher dieser Aktion entpuppte, hatte immer wieder Nebelkerzen zu werfen versucht, um seine eigene Rolle zu verschleiern. Noch in seinen 1998 erschienenen Memoiren hatte Dieter Kunzelmann – der einstige Kopf der Kommune 1 und der Westberliner Tupamaros, um den es hier geht – behauptet, dass es sich entweder um die Tat eines Ausgeflippten oder um eine „Inszenierung von Geheimdiensten“ gehandelt haben müsse.

Der Schlüssel zur Aufklärung lag in der Gauck-Behörde, in einem am Ende der neunziger Jahre aufgetauchten Stasi-Dokument. Einer von Kunzelmanns damaligen Gefährten war Michael Baumann, in der Szene „Bommi“ genannt. Als er just am 9. November 1973 beim Versuch, von der Tschechoslowakei aus in die DDR einzureisen, verhaftet worden war, weil er gefälschte Ausweispapiere mit sich trug, wurde er von der Stasi wochenlang wie eine ­Zi­trone ausgequetscht.

Dabei war ihm eine Liste von in Westberlin verübten Anschlägen vorgelegt worden, die pikanterweise mit dem auf das Jüdische Gemeindehaus begann. Auffällig war nun, dass die Namen der vom MfS vermuteten Urheber „Dieter Kunzelmann/Ingrid Siepmann“ von Baumann ausgestrichen und handschriftlich durch ein „A. Fichter“ ersetzt worden waren.

Umfassendes Geständnis

Da ich nur einen aus der Berliner APO namens Fichter kannte, den einstigen SDS-Landesvorsitzenden Tilman Fichter, rief ich ihn im Sommer 2004 an und fragte, ob er mir bei den Recherchen für eine geplante Publikation behilflich sein könnte. Ohne zu zögern, bestätigte er mir, dass es sich bei dem Genannten um seinen jüngeren Bruder Albert handle. Zu dem Verdacht, dass er etwas mit dem Bombenanschlag zu tun habe, könne er aber nichts sagen, da müsse ich „Abbi“ selbst fragen. Bei einem nach einigem Hin und Her zustande gekommenen Treffen sprach mir der jüngere Fichter ein umfassendes Geständnis auf Band, nicht ohne auf seinen Auftraggeber Kunzelmann und die höchst undurchsichtige Rolle der palästinensischen Organisation Fatah zu verweisen.

Da bekannt war, dass Kunzelmann äußerst klagefreundlich war und es auch schon einmal fertiggebracht hatte, selbst jemanden wie Stefan Aust dazu zu bringen, die in dessen Buch „Der Baader Meinhof Komplex“ aufgestellte Behauptung, dass er Bomben geworfen habe, zu streichen, waren wir – das Hamburger Institut für Sozialforschung und sein Verlag Hamburger Edition – zu Vorsicht gezwungen.

Schließlich wollten wir verhindern, dass die geplante Buchpublikation wegen einer einstweiligen Verfügung gleich wieder aus dem Verkehr gezogen werden müsste. Erst als sich neben Baumann mit der einstigen Kunzelmann-Gefährtin Annekatrin Bruhn eine weitere Person fand, die bereit war, Fichters Aussagen notfalls auch vor Gericht zu bestätigen, konnten wir das Erscheinen des Bandes „Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus“ ankündigen.

Symposium Antisemitismus

Wie es der Zufall wollte, wurde der versuchte Bombenanschlag im Dezember 2005 auch zum Thema auf einem vom Bundesamt für Verfassungsschutz organisierten Symposium. Das BfV hatte sich nach 9/11 entschieden, seine Öffentlichkeitsstrategie zu ändern und seine interne Extremismusdebatte mit der von Fachleuten geführten zusammenzuführen. Eine solche Großveranstaltung, zu der Referenten aus dem universitären, dem journalistischen und dem geheimdienstlichen Bereich eingeladen wurden, hatte 2002 zum ersten Mal in Köln zum Thema Islamismus stattgefunden. Nun stand das vierte dieser Symposien an, diesmal in der Bundesakademie für Sicherheitspolitik in Berlin-Pankow. Das Thema hätte ein Vorgriff auf die jüngste Gegenwart sein können und lautete: „Neuer Antisemitismus? Judenfeindschaft im politischen Ex­tre­mismus und im öffentlichen Diskurs“.

Der Zünder der Bombe Foto: Stark-Otto

Unter den Hunderten von Teilnehmern war nicht nur der von Anfang an erprobte Mix aus einem Drittel Wissenschaftlern, einem Drittel Journalisten und einem Drittel VS-Mitarbeitern; dabei waren auch der amtierende Bundesinnenminister – der ursprünglich angekündigte Otto Schily war durch seinen Amtsnachfolger Wolfgang Schäuble ersetzt worden –, der Koordinator der Nachrichtendienste im Bundeskanzleramt, Verfassungsschutzpräsident Heinz Fromm, die jeweiligen Spitzen von BKA, BND und MAD, eine Reihe von deren Kollegen aus anderen europäischen Ländern, insbesondere denen des ehemaligen Ostblocks, und neben Vertretern des Zentralrats der Juden in Deutschland auch der israelische Botschafter Schimon Stein. Wohl wegen meiner Publikation hatte man auch mich eingeladen. Und ich war dort zusammen mit meinem Kollegen Benedict Mülder, der ehemals für die taz, dann für das ARD-Magazin „Kontraste“ und 3Sat-Kulturzeit arbeitete, erschienen.

Das Hauptreferat über „Erscheinungsformen und Entwicklungstendenzen des Antisemitismus in Europa“ hielt mit Klaus Holz der Leiter des Evangelischen Studienwerks Villigst, der eines seiner Bücher zum Thema ebenfalls in der Hamburger Edition veröffentlicht hatte.

Als am Nachmittag die drei Extremismusfelder Rechts- und Linksextremismus sowie Islamismus hinsichtlich ihrer antisemitischen Bezüge abgearbeitet wurden, war der zweite Sektor von Stefan Kestler übernommen worden, einem Mitarbeiter des BfV, der zugleich als Privatdozent an der Universität Bamberg lehrte. Und an dessen Ausführungen gab es, wie mir schnell klar wurde, wenig auszusetzen. Er hatte die entsprechende Sekundärliteratur über den auch nach 1945 immer noch in Deutschland grassierenden Antisemitismus durchgearbeitet und in einer Weise zusammengefasst, dass er damit auch in liberalen, vielleicht sogar linken Kreisen auf kaum einen Widerspruch gestoßen wäre. Auch der Sache, die am 9. November 1969 im Jüdischen Gemeindehaus passiert war, hatte er sich ausführlich gewidmet.

Doch etwas fehlte in seiner Darstellung. Und das war ein Punkt, der im Kontext des Symposiums, zumal in der geschilderten Zusammensetzung, von nicht unerheblicher Brisanz sein musste. Denn der Referent war mit keinem Wort darauf eingegangen, dass die Bombe, die Albert Fichter im Jüdischen Gemeindehaus deponiert hatte, nicht nur nach seiner eigenen Darstellung aus dem Arsenal des Berliner Landesamts für Verfassungsschutz stammte.

Vergessene Bombe

Als nach Kestlers Vortrag die Anwesenden von Moderator ­Elmar Theveßen, Terrorismusexperte des ZDF, zur Diskussion aufgerufen wurden, dachte ich mir nur, dass ich mir jede weitere Publikation sparen könne, wenn ich nicht gerade hier das Wort ergreifen und auf diese Verbindung hinweisen würde. Ich meldete mich also und erklärte, dass ich gerade eine Buchpublikation über den erwähnten Fall vorgelegt habe. Es tue mir leid, fuhr ich fort, aber mir bleibe nichts anderes übrig, als darauf hinzuweisen, dass Herr Kestler wohl vergessen habe, zu erwähnen, dass die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus vom Berliner Verfassungsschutz stamme; dessen Undercovermann Peter Urbach habe sie an interessierte Kreise weitergereicht.

Danach herrschte für einen Moment betroffenes Schweigen, dann setzte Unruhe ein. und auf dem Podium brach Verwirrung aus. Ich selbst fühlte mich in dieser Situation wie der einsamste Mensch auf der Welt. Theveßen verfügte ganz offensichtlich über keinerlei Direktive, wie mit einer solchen Situation umzugehen sei. Er tuschelte, sichtlich nervös geworden, mit seinen Gesprächspartnern herum, darunter dem Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, Stephan J. Kramer. Dem fiel anschließend nichts Besseres ein, als eine Art Ehrenerklärung für den Verfassungsschutz abzugeben. Konkret eingehen auf die Intervention wollte oder konnte aber offenbar niemand.

Erst als der nächste Referent über den Antisemitismus im Islamismus gesprochen hatte, meldete sich Fromms Amtsvorgänger Peter Frisch, dem der Hinweis auf die Herkunft der Gemeindehaus-Bombe offenbar keine Ruhe gelassen hatte, zu Wort und meinte, dass sie – also der VS – keine Verantwortung für diesen Zusammenhang gehabt hätten. Aber wer dann? Irgendjemand musste doch dafür verantwortlich sein, dass Urbach seinerzeit Waffen, Sprengstoff und Bomben im harten Kern der Szene verteilt hatte.

Machenschaften eines Undercover-Agenten

Vielleicht hätte man sich an den 5. Mai 1971 erinnern müssen. Denn an diesem Tag war Urbachs Zeit im Berliner LfV endgültig vorbei, weil er gezwungen war, vor dem Moabiter Kriminalgericht in einem Prozess gegen den RAF-Mitbegründer Horst Mahler als Zeuge aufzutreten. An diesem Donnerstag war der inzwischen 30-Jährige von Mahlers Verteidiger Schily auf eine Weise ins Kreuzverhör genommen worden, die auch dem naivsten Prozessbeobachter klarmachen musste, dass es hier vor allem um die nur notdürftig im Dunkeln zu haltenden Machenschaften des Undercover-Agenten ging, für den als Erstes der Berliner Senator für Inneres, Kurt Neubauer (SPD), die Verantwortung zu tragen hatte.

Urbach hatte in Schilys Kreuzverhör wie eine Schallplatte mit Sprung immer wieder mit dem Satz reagiert, dass er dazu nichts sagen dürfe. Das bot Mahler, einem alten Intimfeind Neubauers aus gemeinsamen SPD-Zeiten, Gelegenheit, ihn bloßzustellen. „Urbach müsste sonst“, erklärte der einstige, mit Schily aufs Engste kooperierende APO-Anwalt voll Süffisanz, „das Geheimnis um die Herkunft der im November 1969 im Jüdischen Gemeindehaus aufgefundenen Brandbombe lüften.

Kurt Neubauer hätte sicherlich große Schwierigkeiten, einer erstaunten Weltöffentlichkeit plausibel zu machen, wie es dazu kam, dass es eine Bombe aus den Arsenalen des Verfassungsschutzes war, die die Jüdische Gemeinde zu Berlin schreckte.“ Das waren die Worte aus dem Munde eines Mannes, der knapp zwei Jahrzehnte später zum Neonazi mutierte, seitdem den Holocaust leugnet und nicht müde wird, das Verbot aller Jüdischen Gemeinden zu fordern.

Die eigentliche Frage aber lautet noch immer: Was sollte mit der vom VS geduldeten oder aber in Auftrag gegebenen Verteilung von Waffen und Sprengstoff eigentlich bezweckt werden? War es nicht nur illegal, sondern in demokratischer ebenso wie in rechtsstaatlicher Hinsicht nicht auch völlig kontraproduktiv, bestimmte APO-Aktivisten, die zu jener Zeit darauf aus waren, politische Probleme mit Gewalt zu lösen und zu diesem Zweck Waffen und Sprengstoff in die Hände zu bekommen, genau damit auszustatten? Und das obendrein noch im geteilten Berlin, an jener brandgefährlichen Nahtstelle des Ost-West-Konflikts?

Die plausibelste Annahme ist die Vermutung, dass eine Behörde wohl versucht hatte, über Bande zu spielen. Senator Neubauer oder seine Kontrollmacht – also die drei Westalliierten – dürfte das Ziel verfolgt haben, die am Ausgang der 68er-Bewegung radikalisierten Kräfte durch quasiterroristische Aktionen dazu zu bringen, sich in aller Öffentlichkeit zu diskreditieren, und damit ihre politischen Effekte zu neutralisieren. In diesem Zusammenhang könnte also auch der Viermächtestatus Berlins von Bedeutung gewesen sein.

Der Verfassungsschutz war ja nicht nur dem Senator für Inneres unterstellt, sondern hing, wie Rechtsanwalt Klaus Eschen einmal betont hat, „an der Leine der Alliierten“. Verbindungsoffiziere der drei Westalliierten sollen im Senat gesessen und die Praxis von Undercoverleuten kontrolliert haben. Ohne Erlaubnis der US-Amerikaner, der Briten und der Franzosen, hatte Eschen behauptet, hätte keiner der Agenten damit beginnen können, eine militante Gruppe zu infiltrieren.

Ein ganz besonderer Winkelzug offenbarte sich im Frühjahr 2000, als das Berliner Landesamt für Verfassungsschutz als eigenständige Behörde auf einmal aufgelöst und als Abteilung in die Innenverwaltung des Senats integriert wurde. Diese Entscheidung war von Eckart Wer­the­bach (CDU) getroffen worden, einem anderen ehemaligen Präsidenten des Kölner Bundesamtes für Verfassungsschutz, der kurz zuvor auf den Posten des Senators für Inneres gewechselt war.

Ganz offenbar sollte das Berliner Landesamt in seiner alten Form, Struktur und Funktion nicht mehr aufrechterhalten werden. Angeblich sind im Zuge dieser institutionellen Umbettung – das glaube, wer will – alle Akten entsorgt worden. Für Historiker wie Journalisten ist es jedenfalls seither nicht mehr möglich, an Dokumente des Berliner LfV zu gelangen. Als sich das Hamburger Institut für Sozialforschung vor einem Jahrzehnt an die nachfolgende Behörde mit der Bitte um Auskunft über die Gründe dieses folgenreichen Schrittes wandte, wurde die Sache ein ums andere Mal hinausgezögert. Eine Antwort ist bis auf den heutigen Tag nicht eingegangen.

Und noch zwei Nachträge. Der erwähnte BfV-Präsident Heinz Fromm sah sich 2012 gezwungen, wegen verschiedener Pannen bei den Ermittlungen im Zusammenhang mit dem NSU-Skandal – wie es offiziell hieß – um seine Versetzung in den einstweiligen Ruhestand zu bitten. Und der ebenfalls erwähnte Zentralratsvertreter ­Kramer ist mittlerweile zum Verfassungsschutz übergewechselt und fungiert seit Dezember 2015 als ­Präsident des thüringischen LfV, also jener Behörde, die mit den von ihr angeworbenen V-Leuten wie wohl kaum eine zweite in den NSU-Komplex verwickelt war.

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