piwik no script img

Downtown-Dallas: Eine Frau demonstriert für ihr Recht auf Abtreibung Foto: Jaime Carrero/Imago

Neues Abtreibungsgesetz in TexasDas ist nur der Anfang

Seit dem ersten September ist Abtreibung in Texas nahezu verboten. Das von Schwarzen gegründete Afiya-Zentrum für Gesundheit stemmt sich dagegen.

Dorothea Hahn
Von Dorothea Hahn aus Texas

W enn du über sechs Wochen bist, ist es zu spät für uns“, muss Quiana Arnold neuerdings oft sagen. Statt die hilfesuchenden Frauen an eine Klinik in Texas zu vermitteln, die Abtreibungen durchführt, schickt sie sie ins Internet. Wenn sie dort „brauche Abtreibung“ eintippen und fündig werden, kann Quiana Arnold notfalls Geld auftreiben. Oder eine Adresse für die Übernachtung in Oklahoma, New Mexico oder Colorado vermitteln.

Empfohlener externer Inhalt

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen:

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung

Quiana Arnold arbeitet im Geburtenteam von Afiya in Dallas. Das Afiya-Zentrum, dessen Name an das Swahili-Wort für Gesundheit erinnert, ist das einzige von schwarzen Frauen geführte Gesundheitszentrum im Norden von Texas. Weiße Klientinnen hat Arnold nicht.

Bei schwarzen Frauen und Mädchen im Großraum Dallas steht das Afiya-Zentrum im Ruf, Unmögliches möglich zu machen. Die Mitarbeiterinnen führen keine Eingriffe durch. Sie beraten. Für ihre Klientinnen vermitteln sie Hilfen bei Fruchtbarkeitsproblemen, Geburten und Abtreibungen; sie bieten Doulas an – nichtmedizinische, professionelle Begleiterinnen für Geburten, Fehlgeburten und das Lebensende. Sie organisieren sexuelle Aufklärung, Verhütung und sichere Räume für verfolgte Frauen. „Wir sind ein praktischer Fonds“, sagt Quiana Arnold, „wir schützen schwarze Frauen.“

Aber seit dem 1. September sind selbst dem Afiya-Zentrum die Hände gebunden. „Traut schwarzen Frauen“, schrieben die Mitarbeiterinnen auf ein mehrere Quadratmeter großes Werbeplakat, das Anfang September längs der großen Verkehrsachsen in Dallas auftauchte, wo sonst Bibelsprüche und Slogans für Hypothekenbanken prangen: „Abtreibung ist Selbstfürsorge“. Es war ihr erster Protest gegen das neue Gesetz SB8, das am 1. September in Kraft getreten ist. Es verbietet fast alle Schwangerschaftsabbrüche in Texas nach der sechsten Woche. Weil über 85 Prozent aller Abtreibungen erst nach der sechsten Woche stattfinden, kommt es einem Verbot von Abtreibungen sehr nahe.

Das Gesetz macht gewöhnliche Bürger zu Strafvollzugsorganen. Es fordert sie auf, Menschen anzuzeigen, die Abtreibungen unterstützen. Dabei hantiert es mit einem so weit gefassten Begriff von „Helfern und Unterstützern“, dass die Verfolgung viele treffen kann: von den Nahestehenden, die einer schwangeren Frau Informationen und Geld für eine Abtreibung geben, über den Taxifahrer, der sie in die Klinik fährt, bis zu dem Arzt, der den Eingriff durchführt. Den Denunzianten winken saftige Belohnungen, die bei 10.000 Dollar Minimum anfangen. Zahlen müssen die Verurteilten. Für Afiya, das dank Spenden existiert, könnte eine Verurteilung nach SB8 das Ende bedeuten.

Zu dem Risiko, denunziert und finanziell ruiniert zu werden, kommt hinzu, dass sich die Afiya-Mitarbeiterinnen auch individuell bedroht fühlen. “Wir sind bewegliche Ziele“, sagt Quiana Arnold. Sie arbeitet deswegen von einem ungenannten Ort aus – vor allem am Telefon und per Zoom.

„Wir prüfen jede Person, mit der wir sprechen“, sagt Michelle Anderson, die Politikbeauftragte des Afiya-Zentrums. Die 51-Jährige ist eines der öffentlichen Gesichter des Afiya-Zentrums. Sie hat keine Angst vor schwierigen Themen. Als sie 2011 „Miss Plus America“ – eine Misswahl für runde Frauen – gewann, nutzte sie den Titel, um über ihre HIV-Infektion zu sprechen. Sie wollte die Stigmatisierung von HIV-positiven schwarzen Frauen beenden. Jetzt stellt sie für das Afiya-Zentrum das „System von Ungleichheiten“, mit dem schwarze Frauen konfrontiert sind, in den Vordergrund.

Wir erfahren Rassismus ab dem Moment, in dem wir den Uterus verlassen. Sie fürchten, dass sie in die Minderheit geraten. Es geht ihnen darum, ihre Macht und den Status quo zu erhalten

Michelle AndersonAfiyah-Zentrum

„Wir erfahren Rassismus ab dem Moment, in dem wir den Uterus verlassen“, sagt sie. Das texanische Abtreibungsverbot ist für sie eine weitere Ausdrucksform der weißen Vorherrschaft. „Sie fürchten, dass sie in die Minderheit geraten“, sagt Michelle Anderson über die Drahtzieher des Gesetzes, „es geht ihnen darum, ihre Macht und den Status quo zu erhalten.“

Michelle Anderson ist die Politikbeauftragte des des Afiya-Zentrums Foto: Dorothea Hahn/taz

Manche Pro-Choice-Aktivistinnen in den USA haben neuerdings Bodyguards. Die hat Michelle Anderson nicht. Aber auch sie ist vorsichtig geworden. Sie reist nicht mehr allein.

Abtreibungen in Texas im ersten Schwangerschaftsdrittel kosten im Durchschnitt 500 Dollar. Fast immer müssen die Frauen selbst zahlen, die meisten Krankenversicherungen in Texas dürfen diese Kosten nicht übernehmen. Die 1,4 Millionen Nichtversicherten in Texas – mehr als in jedem anderen Bundesstaat der USA – sind ohnehin auf sich gestellt.

Gesetz lässt auch Kosten für Abtreibung steigen

Mit dem neuen Gesetz vervielfachen sich die Kosten für eine Abtreibung ab der siebten Woche. Zusätzlich zu dem Eingriff müssen Frauen jetzt auch für Reisen, mehrtägige Lohnausfälle und Kinderversorgung während ihrer Abwesenheit aufkommen. „Das trifft braune und schwarze Frauen besonders hart“, sagt Michelle Anderson. Sie haben geringeres Einkommen, weniger Zugang zu Bildung und sind in der Gesundheitsversorgung benachteiligt.

Das zeigt sich auch bei der Müttersterblichkeit. Eine Gesundheitsstudie im Auftrag des Gouverneurs von Texas im Jahr 2018 kam zu dem Ergebnis, dass schwarze Frauen in dem Bundesstaat mehr als doppelt so häufig während der Schwangerschaft oder unmittelbar danach sterben, als weiße. Für mehr als 14 von 100.000 schwarzen Frauen in Texas endet eine Schwangerschaft mit dem Tod. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass die meisten Todesfälle vermeidbar sind.

„Rassistisch“, lautet auch der Befund von Yolanda Blue Horse über das neue Gesetz. Sie hat den Eindruck, dass ihr schon wieder jemand sagen will, was sie mit ihrem Körper zu tun und zu lassen hat. Die 49-Jährige aus dem Volk der Rosebud Sioux, die in Dallas lebt, fühlt sich durch SB8 an den Völkermord an den indigenen Einwohnern Amerikas erinnert: „Beim ersten Kontakt waren wir Millionen. Im 19. Jahrhundert waren nur noch 250.000 von uns übrig.“ Sie denkt auch an die Massensterilisationen von indigenen Frauen in den 60er und 70er Jahren. Und sie denkt an ihr eigenes traumatisches Erlebnis als kleines Mädchen.

Yolanda Blue Horse nennt das neue Gesetz „rassistisch“ Foto: Dorothea Hahn/taz

Seit SB8 in Kraft ist, gehen täglich Frauen mit ihrer persönlichen Geschichte in die Offensive. Manche berichten zum ersten Mal öffentlich, dass, wann und warum sie abgetrieben haben. Yolanda Blue Horse bricht ihr Schweigen über ihren Stiefvater, der sie als Kind sexuell belästigt hat. Es war Zufall, dass sie nicht schwanger geworden ist. „Natürlich brauchen wir Abtreibungen“, sagt sie, „gerade junge Mädchen, wie ich eines war, sind darauf angewiesen. Alles andere würde ihr Leben zerstören.“

Gesetz gilt ausnahmslos – auch bei Vergewaltigung

Das Gesetz macht auch in Fällen von Inzest und Vergewaltigung keine Ausnahme. Der republikanische Gouverneur von Texas, Greg Abbott, redet sich damit heraus, dass er die Vergewaltiger von den Straßen Texas vertreiben werde. Für die indigene Bürgerrechtlerin ist das „der idiotischste Satz, den je ein Mann gesagt hat“.

„Abtreibung ist legal in Texas“ lautet die erste Botschaft auf der Webseite von Planned Parenthood in Dallas. Es ist ein trotziges Aufbäumen, dem lange Ausführungen über die zahlreichen Einschränkungen durch das neue Gesetz folgen.

Planned Parenthood ficht das Gesetz vor Gericht an. Aber auch die größte Organisation für Familienplanung in den USA muss sich den neuen Realitäten in Texas beugen. Seit dem 1. September gehen noch mehr Anrufe bei ihr ein als gewöhnlich. Erstmals kommen auch Anfragen von Frauen, die noch gar keinen positiven Schwangerschaftstest haben, und vorsichtshalber einen Termin für eine Abtreibung reservieren wollen. Bei manchen ist ein Kondom beim Sex geplatzt. Andere sind Opfer von Gewalt geworden. In jedem Fall stehen sie unter Zeitdruck. Eine Schwangerschaft kann meist erst zum Zeitpunkt der ersten ausgefallenen Menstruation nachgewiesen werden. Danach bleiben nur zwei Wochen.

Für Frauen mit geringem Einkommen sind die Beratungsstellen von ­Planned Parenthood quer durch Texas oft der einzige Ort, an dem sie medizinisch betreut werden. Fast alle Stellen haben Vorsorgeuntersuchungen, Mammogramme, Verhütung und Schwangerschaftstests im Programm. Aber Abtreibungen haben auch schon vor Ende August nur noch eine Handvoll Kliniken in Texas angeboten. Seit dem 1. September hat Planned Parenthood im Süden von Texas alle Abtreibungen – auch die im Frühstadium von Schwangerschaften – eingestellt. Im Norden sind die Zahlen drastisch gesunken. In Houston, der größten Stadt des Bundesstaates, wo vorher durchschnittlich 25 Abtreibungen pro Tag stattfanden, wurden an zehn Tagen im September nur 63 erfasst.

Statt eigener Eingriffe bietet Planned Parenthood nun logistische Hilfen an. In Dallas hat die Organisation zwei „Patient Navigators“ eingestellt. Sie buchen Termine für Abtreibungen in anderen Bundesstaaten. Die Kliniken in den Nachbarbundesstaaten haben ihre Behandlungszeiten verlängert. Ein Teil des medizinischen Personals von Planned Parenthood Dallas ist zur Verstärkung nach New Mexico gegangen. In Oklahoma kommen schon mehr als die Hälfte der Patientinnen aus Texas.

„Jeder Gynäkologe weiß, dass Abtreibung zur Gesundheitsversorgung von Frauen dazugehört“, sagt Autumn Keiser, Sprecherin bei Planned Parenthood in der texanischen Hauptstadt Austin. Aber die Gerichte in Texas haben ihrer Organisation bislang nicht einmal Gelegenheit gegeben, ihre Argumente bei einem Hearing zu erklären.

Selbst die Anfechtung des texanischen Gesetzes durch den Bundesjustizminister führte nur zu einer kurzen Unterbrechung seiner Anwendung. Am 6. Oktober setzte ein Richter das Gesetz per einstweiliger Verfügung aus. Das Gesetz benutzt Tricks, um Frauen ein Recht zu entziehen, das ihnen seit 1973 zusteht, begründete er. Aber schon zwei Tage später gab ein anderes Gericht der Berufung durch die texanische Regierung statt. Damit war SB8 wieder in Kraft.

Autumn Keiser ist optimistisch, weil in Washington erstmals seit Jahren wieder ein Präsident und eine parlamentarische Mehrheit sitzen, die „motiviert“ sind. Trotzdem fürchtet sie, dass Texas zu einer Zone von komplettem Abtreibungsverbot werden könnte. Im nächsten Schritt würde das Nachahme-Effekte quer durch den Süden und mittleren Westen der USA auslösen, wo ähnliche Gesetze bereits in den Schubladen liegen. Schwangeren Frauen aus diesen Staaten – flächenmäßig der größte Teil der USA – die eine legale Abtreibung suchen, bliebe dann nur die Reise in Staaten mit demokratischen Mehrheiten, die das Recht auf Abtreibung in Gesetze gefasst haben. Oder ins Ausland. Für Frauen sind das schlechte Nachrichten, resümiert Autumn Keiser: „Es bedeutet: weniger Möglichkeiten und höhere Kosten.“

Die Männer und Frauen, die im sechsten Stock des Hilton Hotels in Austin zusammengekommen sind, sehen das anders. „2021 ist ein unglaublich gutes Jahr“, sagt der evangelikale Pastor Robin Steele, der den Benefiz-Abend der „Texas Alliance for Life“ mit einem Gebet eröffnet. „A-men“, kommt es zurück. An den runden Tischen sitzen Geschäftsleute, Priester, Nonnen und jede Menge texanische Republikaner. Die überwiegende Mehrheit der Teilnehmer ist weiß. Einige Frauen wiegen Babys auf den Armen. Alle Redner stellen sich mit der Zahl ihrer Kinder vor. Einer hat acht.

„Seit dem 1. September retten wir jeden Tag 150 Babys“, sagt der texanische Vize-Gouverneur Dan Patrick. „Bravo“, rufen mehrere Hundert Tischgäste. Der Vizegouverneur muntert sie auf: „Jeder von Ihnen kann einen Doktor anzeigen.“ Nach ihm tritt der langjährige Chef der Vereinigung von Abtreibungsgegnern ans Mikrofon. Joe Pojman macht klar, dass SB8 nur der Anfang war: „Wir haben auch Gesetz Nummer 1280 durchgesetzt. Es tritt in Kraft, sobald das Oberste Gericht die schreckliche Entscheidung von 1973 kippt.“ Das Gesetz verbietet jede Abtreibung „ab der Befruchtung“. Für Joe Pojman ist es keine Frage mehr, ob der oberste Gerichtshof in seinem Sinne entscheidet, sondern wann. Er bekommt stehenden Beifall.

Der 62-Jährige Luftfahrtingenieur hat eine Weile für die Nasa in Houston gearbeitet. Aber Joe Pojmans Lebenswerk ist der Kampf gegen das Recht auf Abtreibung, das das Oberste Gericht im Jahr 1973 in einer Grundsatzentscheidung garantiert hat. Nach seiner Überzeugung beginnt das Leben „mit der Empfängnis“ und endet mit dem „natürlichen Tod“. Und das will er zum Gesetz des Landes machen. 1988 meldete er seine Organisation bei der texanischen Steuerbehörde an. Seither hat er die Politiker und die Medien in Texas bearbeitet. Und alljährliche Demonstrationen und Gebete „für das Leben“ vor dem Kapitol in Austin organisiert. Nach 33 Jahren wähnt er sich kurz vor dem Sieg. „Im nächsten Juni oder Juli können wir eine Entscheidung des Obersten Gerichtes erwarten“, verspricht er am Benefiz-Abend. Diese Veranstaltung findet am selben Tag statt wie die mehr als 600 Demonstrationen quer durch die USA, bei denen Frauen das Recht auf Abtreibung verteidigen.

Die Männer und Frauen im Saal nennen sich „Lebensschützer“, wie die Gewalttäter, die in den 80er und 90er Jahren mit Sprengsätzen und Schusswaffen gegen Gynäkologen vorgingen. Aber sie pflegen einen anderen Stil. Sie gehen unverdeckt vor. Sind legalistisch. Und wissen, dass sie starke Mehrheiten in den Institutionen haben. Nicht nur in Texas, wo die Republikaner beide Kammern und das Gouverneursamt mit Supermehrheiten kontrollieren, sondern vor allen Dingen im Obersten Gericht, wohin Expräsident Donald Trump drei neue Richter geschickt hat, die das Grundsatzurteil von 1973 ablehnen.

Die Arbeit von Planned Parenthood wird behindert

Am Benefiz-Abend lassen sich Joe Pojman und republikanische Politiker aus Texas für ihre legislativen Erfolge feiern. Dazu gehört, dass Planned Parenthood in Texas sämtliche öffentlichen Mittel entzogen worden sind. Die Gelder sind an die „Alternativen zur Abtreibung“-Programme umgeleitet worden sind, die versuchen, Frauen zum Austragen ungewollter Schwangerschaften und eventuell zur Adoption zu überreden.

Dazu gehört, dass der Sexualkundeunterricht an Schulen nur noch nach elterlicher Zustimmung stattfinden darf, und dass Lehrer in Texas angehalten sind, den Schülern Enthaltsamkeit vor der Ehe nahezulegen. Und dazu gehört, dass ungewollt schwangere Frauen in Texas, schon lange vor SB8 alle möglichen Schikanen über sich ergehen lassen mussten, um eine Abtreibung zu bekommen: Sie müssen Ultraschallbilder anschauen, elektrische Impulse anhören und Texte lesen, die Falschinformationen verbreiten – darunter die Behauptung, dass ein Schwangerschaftsabbruch das Krebsrisiko erhöhe.

Sie nennen Embryonen Babys. Vizegouverneur Patrick geht noch weiter. Er gibt ihnen eine Nationalität. „Wir retten kleine Texaner“, sagt er.

In jahrzehntelanger Arbeit haben Gruppen wie die Texas Alliance for Life nicht nur Gesetze durchgesetzt. Sie haben es auch geschafft, der Abtreibungsdebatte ihre Ideen und ihre Worte aufzuzwingen. Sie haben Begriffe wie „Abtreibungsindustrie“ und „Töten“ populär gemacht, die suggerieren, dass die andere Seite von Geldgier und Mordlust getrieben ist. Sie haben das Stichwort „Herzschlaggesetz“ in Umlauf gebracht, obschon ein Embryo in der sechsten Woche noch kein Herz mit Klappen hat, das schlagen könnte. Und sie nennen Embryonen, die so groß wie Erbsen sind und weder Arme noch Beine haben, „Babys“. Der Vizegouverneur geht noch weiter. Er gibt ihnen eine Nationalität. „Wir retten kleine Texaner“, sagt er.

Für Frauen, die selbst entscheiden wollen, ob sie ein Kind wollen, haben die Teilnehmer des Benefiz-Abends keine Empathie. Zu einer Schwangerschaft nach einer Vergewaltigung sagt Debra Damman, Geschäftsfrau und aktives Mitglied einer Pfingstler-Gemeinde achselzuckend: „Wir mögen es nicht geplant haben, aber Gott hat einen Plan.“ Für Joe Pojman sind Vergewaltigung und Inzest „schreckliche Verbrechen“. Aber er erkennt darin keine Rechtfertigung für Abtreibung: „Die Frau kann das Baby behalten oder zur Adoption freigeben.“

Debra Damman gehört seit zwölf Jahren zu der Vereinigung. Ihr nächstes Ziel ist ein vollständiges Abtreibungsverbot in Texas. Aber selbst wenn es dieses geben sollte, will sie ihr Engagement fortsetzen. Sie betrachtet Texas als „Führer“: für die USA und die Welt. So sieht es auch Shawn Carney, der eine halbstündige Rede hält, um die Anwesenden zu mehr Spenden zu animieren. Das Spendenziel für den Abend sind 400.000 Dollar. Shawn Carneys Talent, Bibelzitate und Politisches zu verbinden, ist den Konservativen in Texas schon aufgefallen, als er noch Student war. Inzwischen ist Shawn Carney ein texanischer Exportartikel. Er organisiert gemeinsam mit evangelikalen Kirchen „40 Tage für das Leben“-Kampagnen, schreibt Bücher und tourt um die Welt.

Aufgeklärte Frauen wehren sich gegen die Sprache, mit der Joe Pojman und seine Mitstreiter versuchen, Politik zu machen. „Wir leisten keinen Vorschub für rechte Rhetorik“, sagt Michelle Anderson vom Afiya-Zentrum in Dallas, „in der sechsten Woche ist ein Embryo ein Gewebe, das sich entwickelt.“ Aber in der Öffentlichkeit haben die Begriffe sich durchgesetzt.

Selbst in Krankenhäusern in Texas ist das Thema Abtreibung tabu. „Natürlich verhindert das Gesetz keine Abtreibungen, es macht sie allenfalls unsicherer“, sagt die 29-jährige Krankenschwesternausbilderin Radiance Bean in Dallas. Aber sie hält es für unmöglich, das an ihrem Arbeitsplatz zu thematisieren. „Dann würde sofort ein Geldgeber drohen, seine Spenden zurückzuziehen.“ Im vergangenen Jahr ist die schwarze Ausbilderin schon einmal mit einem Thema, das ihr wichtig ist, gegen eine Wand gerannt. Sie wollte an der staatlichen Universitätsklinik in Dallas eine Unterrichtseinheit über Ungleichheiten in der medizinischen Betreuung von schwarzen und weißen Patienten anbieten. Die Personalabteilung gab ihr 30 Tage, „um einen neuen Job zu suchen“.

Im Texas des Jahres 2021 fühlt sich die gebürtige Irin Abigail Aiken gelegentlich an ihre Jugend in Nordirland erinnert. „Du kannst alles tun, bloß nicht schwanger werden“, hat ihre ansonsten liberale Mutter sie damals gewarnt. „In dem Fall könnte ich dir nicht helfen.“ Abtreibung war verboten. Junge Mädchen, die zu dem Zweck nach England reisten, schadeten dem Ruf der ganzen Familie.

Heute lehrt die 37-jährige Abigail Aiken an der University of Austin. Sie hat Medizin und öffentliches Gesundheitswesen studiert, ihr Forschungsgebiet sind Abtreibung und Alternativen zu operativen Schwangerschaftsabbrüchen. Sie hat Studien über den Einsatz der Abtreibungspillen Misoprostol und Mifepristone bei selbst durchgeführten Abtreibungen in Europa gemacht. Ihr Ergebnis: „Sie sind sicher.“

Abtreibungspille als Teil einer temporären Lösung

Anfang September, als das Gesetz SB8 gerade in Kraft getreten war, gingen Frauen von der Organisation Plan-C mit einem kleinen Laster auf Tour durch konservative ländliche Gebiete in Texas. Über die Außenwand ihres Lasters flimmerte nonstop die Nachricht: „Periode verpasst? Dafür gibt es eine Pille.“ Gefolgt von der eigenen Webseite. Von dort aus werden Interessentinnen weiter an „Aid-Access“ verwiesen, wo Frauen die Pillen nach einer Onlinekonsultation für 105 Dollar bestellen können.

In den USA sind die Abtreibungspillen schon lange im Einsatz. Doch bislang geschah das fast nur unter medizinischer Kontrolle in Kliniken. Erst bei Beginn der Pandemie erlaubte die Medikamentenbehörde FDA – zunächst vorübergehend – einen Postversand. Im September schnellten die Anfragen bei Plan-C von ein paar Hundert pro Tag auf über 80.000 in der ersten Septemberwoche hoch. 30 Prozent kamen aus Texas.

taz am wochenende

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Die Republikaner in Texas haben bereits ein neues Gesetz verabschiedet, um die postalische Zustellung von Abtreibungspillen zu verbieten. Aber wenn Ärzte außerhalb von Texas Pillen verschreiben, die aus Europa oder Indien kommen, greift ihr Gesetz bislang nicht. Die Forscherin Abigail Aiken ist skeptisch, dass das Grundsatzurteil von 1973 im neuen Obersten Gericht der USA Bestand haben wird. Aber sie sieht die Pillen als Silberstreif: Wie einst in Irland könnten die Pillen in Texas, nach dem Quasiverbot von Abtreibungen, eine Lösung bieten.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

7 Kommentare

 / 
Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Zynisch ist v.a., dass gleichzeitig die sexuelle Aufklärung an Schulen eingeschränkt wird.

    Die sicherste Weise, die Zahl von gewünschten Abtreibungen zu reduzieren, ist flächendeckende, gute Aufklärung und kostenfreier, unkomplizierter Zugang zu Verhütungsmitteln.

    Aber darum geht es hier gar nicht...

  • Wie zynisch und menschenverachtend, einer nach Vergewaltigung schwangeren Frau zu sagen, das wäre eben "Gottes Plan"... Sowas kann doch nur jemand sagen, dem es an Empathie, Herz und Hirn fehlt.

  • ".. nennen Embryonen, die so groß wie Erbsen sind und weder Arme noch Beine haben, „Babys“."

    Wie immer man zu dieser Diskussion steht, sollen wir unsere werdenden Kinder künftig liebevoll "Zellklümpchen" nennen, um nicht als extremistisch zu gelten?

    Unseren kleinen Sohn haben wir nach Bekanntwerden der Schwangerschaft "unser Baby", später Max genannt. Sein gesund schlagendes Herz konnten wir ab der sechsten Schwangerschaftwoche wahrnehmen. Sicher gibt es herzlose Menschen, die im Mutterleib gehören sicher noch nicht dazu.

    Als Vater eines mittlerweile kleinen Jungen kann ich beide Seiten verstehen, finde aber die Entscheidung über eine weiterer Schwangerschaft sollte immer ein Interessenausgleich von Mutter, Vater und dem werdenden Kind berücksichtigen. Insofern finde ich die Diskussion der beteiligten Parteien zu kurz gegriffen.

    • @Jörg Radestock:

      Wie soll denn ein Interessenausgleich zwischen einer ungewollt schwangeren Frau, dem potenziellen Vater und dem Embryo ihrer Meinung nach aussehen? Die Entscheidung muss letztendlich bei der Frau liegen, in deren Körper die Schwangerschaft stattfindet. Alles andere ist übergriffig und verletzt ihr Selbstbestimmungsrecht.



      Ich bin selbst Mutter dreier Kinder und finde die Vorstellung einer erzwungenen Schwangerschaftsfortsetzung unerträglich.

    • @Jörg Radestock:

      Als Vater eines kleinen Kindes können Sie beide Seiten verstehen.



      Also auch die Seite, die ein Gesetz auf den Weg gebracht hat, das eine Frau, die abgetrieben hat, kriminalisiert und sie in den Ruin treibt. Und den Taxifahrer, der sie zur Klinik gefahren hat, gleich mit.



      Ich bin Vater von 4 Kindern. Wenn ich mir vorstelle, meine Töchter würden im Teenager-Alter oder sehr früh ungewollt schwanger (von Vergewaltigung ganz zu schweigen) , dann bin ich froh, daß Abtreibung eine legale Option ist.

    • @Jörg Radestock:

      Sie mögen vielleicht die Mittel, den Willen und die Stärke haben, ein Kind groß zu ziehen. Das ist eine große Verantwortung, der viele nicht gewachsen sind und es gibt vernunftbegabte Menschen, die das für sich selbst entscheiden können. Viele können es leider nicht und dann wachsen Kinder in Not und Leid auf, werden vernachlässigt, mißbraucht und benutzt. Sie können wirklich nicht von ihrer Bilderbuch-Familie auf andere schließen.

  • Toller Artikel. Nur verstehe ich nicht, warum das Argument angeführt wird, die Weißen verlören ihre Vorherrschaft, wenn sie schwarzen Frauen nicht verbieten würden, abzutreiben. Mehrt nicht jedes schwarze Baby die schwarze Minderheit und bringt Weiße näher an den Minderheitenstatus?



    Man könnte natürlich argumentieren, dass jedes (ungewollte) in armen Verhältnissen geborene Kind die Not der Eltern vergrößert und deren sozialen Aufstieg nur noch schwieriger macht, aber ob die weißen Bettlaken so weit denken können, weiß ich nicht.