Neuer kulinarischer Trend: Vom Waldboden essen
Nicht nur Wild und Pilze, auch Flechten, Zapfen und Nadeln stürmen die Teller. Aber ist es wirklich so unproblematisch, sich im Forst zu bedienen?
Nicht mal mehr vier Wochen, dann zeigt sich unter den Bäumen das erste essbare Grün. Mehr oder weniger intensiv wabert ein milder Zwiebelduft über den Waldboden. Es ist der Bärlauch. Und einerlei, ob jemand schon mal Pilze gesammelt hat, Flechten von Steinen gekratzt hat, ob er gelernt hat, Holunder- von Vogelbeeren zu unterscheiden oder Kornelkirschen von rotem Hartriegel – um Bärlauch zu sammeln, muss man nichts wissen.
Die giftigen Maiglöckchen und Herbstzeitlose sind zwar ähnlich, aber es braucht keinen groß geschulten Blick, um den Unterschied zu erkennen. Man geht einfach nur der Nase nach, wenn man auf ein Feld mit dunkelgrünen Blättern trifft. Und mal ehrlich: Man nimmt immer zu viel mit, oder nicht?
Der Bärlauch ist eine Pionierpflanze, auch im botanischen Sinne, vor allem aber – und darum geht es hier: im kulinarischen Kontext. So wie sich kaum jemand einen Frühling ohne Spargel vorstellen kann, ist es auch mit Bärlauch. Inzwischen gibt es ihn nicht nur als frisches Bund im Supermarkt, sondern auch geschnitten und gefriergetrocknet, als Pesto oder Risotto-Mix. Gleichzeitig hat er den Blick geweitet für das, was sonst noch so unter Bäumen wächst und verzehrbar ist, jenseits von Pilzen und Wildbret.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Und das ist überraschend viel. Das junge Laub des Ahorns kann man wie Weinblätter benutzen, um darin Graupen einzuwickeln oder Fisch zu dämpfen. Auch Sirup lässt sich daraus machen, ebenso wie aus Tannen- und Fichtensprossen. Die zarten Nadeln sind essbar und schmecken leicht zitronig.
Jahr für Jahr kommen neue Kochbücher raus, entdecken Gourmetköche, die sich regional und saisonal orientieren, den Wald als Nahrungsraum. Jedes Jahr werden es ein bisschen mehr: Wildkochbücher, die sich nicht mehr bei Rehpfeffer, Hirschragout und der Buttermilchmarinade der Großmütter aufhalten, sondern Wild modern interpretieren. Restaurants, die Krause Glucke, Schwarze Trompete oder Parasol (alles Pilze) auf die Karte nehmen. Und auch die Flora bietet ständig neue Möglichkeiten.
Essen als Völkerverständigung
Längst gibt es im Bioladen Birkenwasser und Birkenzucker, aber schon erobern Wildspargel, Löwenzahn, Bucheckern im Gefolge des Bärlauchs Küchen und Gourmetläden.
Wenn der Mensch isst, dann reist er am liebsten in ferne Länder oder in die Vergangenheit. Diese goldene Regel der Kochliteratur gilt nach wie vor. Der Geschmack der Kindheit oder eines Urlaubs birgt Wohlfühlgarantie. Es gibt zwei kulinarische Trendthemen, die nicht in dieses Muster passen und eigentlich nicht unterschiedlicher sein können. Das sind Wald und Flucht. Es geht hier nicht um Soul, sondern um Conflict Food.
Dazu muss ich die Geschichte der „Conflict Kitchen“ erzählen, ein Imbiss, der 2010 in Pittsburgh, Pennsylvania eröffnete. Im wöchentlichen Wechsel bot er Speisen aus Ländern an, mit denen die USA im Clinch lagen: Irak, Iran, Kuba, Venezuela, Nordkorea, sogar die Küche der nordamerikanischen indigenen Völker.
Ein durch und durch politisches Projekt, das weltweit gewisses Aufsehen erregte und wegen seines Erfolgs Nachahmer fand, in Europa meist durch Pop-up-Restaurants.
Conflict Food wird vielleicht nie eine so große Marke werden wie Slow Food. Aber das Motiv lässt sich immer wieder beobachten: Essen aus Solidarität, als Völkerverständigung. So gehörten zur Willkommenskultur nach 2015 nicht nur Restaurantprojekte mit Geflüchteten, sondern es füllten sich auch die Kochbuchregale. Bücher mit Rezepten aus den Herkunftsländern stießen auf Nachfrage – aus Syrien, Iran oder Libanon.
Dieser panorientalische Trend war nicht neu, 2015 bekam er in der deutschen Gastronomie aber richtig Antrieb. Es entstanden viele Restaurants mit sogenannter levantinischer Küche. Hier darf man speisen, als ob es von der Türkei bis nach Ägypten, von Israel bis in den Iran keine kulturellen, religiösen oder politischen Konflikte gäbe.
Der Wald ist auch ein Schauplatz für Conflict Food. Eigentlich ist es widersinnig, dass er gerade jetzt als Nahrungsraum in Mode kommt. Der Wald ist Krise. Er brennt, er vertrocknet, das ganze Ökosystem ist aus den Fugen, erklären die Experten. Es steht so schlimm, dass 1,5 Milliarden Euro für Wiederaufforstung bereitgestellt wurden. Junge Klimaschützer organisieren inzwischen bundesweit Protest, wenn Bäume Tagebauen, Autobahnen oder Fabriken weichen sollen. Aber vom Wald zu essen, das soll gleichzeitig okay sein? Wie passt das zusammen?
Man könnte einiges über die Deutschen, die Romantik und den Wald schreiben. Interessant ist: Im 19. Jahrhundert begann die Geschichte des Kulturbereichs Wald, der bis dahin „Wildnis“ und „Wirtschaftsraum“ war. Dass man sich daraus seit Jahrhunderten für die Küche bediente, wurde mit der Industrialisierung der Landwirtschaft immer uninteressanter, so wie auch die Sagen und Geschichten über Wilderer aus der Mode kamen.
Die bürgerliche Küche, die in dem Jahrhundert entstand, ist eine extrem landwirtschaftliche: Sollte sich der Adel doch weiter den Gewehrschrot aus den Zähnen pulen, wenn Wildschwein auf den Tisch kam.
Kommt bald der Forétarier?
Mit der prekären Situation ändert sich das Bild. Es entstehen ein neuer Sehnsuchtsort und neue Techniken der Aneignung. Peter Wohlleben, Deutschlands bekanntester Förster, hat uns das soziale System Wald erklärt. Menschen gehen zum Waldbaden, wie sie sich früher CDs mit Walgesängen in den Rekorder schoben.
Der Wald ist nicht mehr gefährlich, sondern verletzlich – aber immer noch ursprünglich. Kein Kochbuch, kein Blog zum Thema Wald, das nicht darauf hinweist: Wenn Nutztiere irgendwo artgerecht leben, dann ist es Wild – ohne Zäune und bei der Futtersuche auf sich gestellt. Und bei Obst und Gemüse erklären sie: Der Wald ist das bessere Bio, Ausnahme Steinpilze, Sie wissen schon – Tschernobyl.
Wenn der Mensch isst, dann reist er auch gerne in eine bessere Welt. Im Wald ist es die alte der Jäger und Sammler der Steinzeit und zugleich das Morgen eines klimaneutralen, deindustrialisierten Planeten. Sicher gibt es bald einen Begriff für Waldesser, so wie Veganer oder Flexitarier: Forétarier würde nice klingen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich