Neue Zahlen der Armutsstatistik: Die Armutspandemie

Jedes Jahr wird die Armutsstatistik veröffentlicht, zur Kenntnis genommen – und unsolidarisch vergessen. Aber diesmal geht es um die Mittelschicht.

Blick in einen leeren Kühlschrank

Bald vielleicht Standard der Mittelschicht: der halbleere Kühlschrank Foto: Anke Tillmann/plainpicture

Das Statistische Bundesamt meldet am Donnerstag: 15,8 Prozent der Bundesbürger sind im Jahr 2021 armutsgefährdet gewesen. Im Jahr davor waren es 16,1 Prozent. 2019 15,9 Prozent. Und 2018? 15,5 Prozent.

Jedes Jahr kommt diese Statistik, und jedes Jahr vermelden sie Nachrichtenagenturen des Landes. Jedes Jahr übernehmen sie Re­dak­teu­r:in­nen der Tageszeitungen und veröffentlichen sie auf ihren Print- und Online­seiten.

Seit 2005 pendelt der Anteil der Menschen in Deutschland, die von Armut bedroht sind – weil sie, so die Definition, weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung haben –, zwischen 14 und 16 Prozent. Dieses Jahr also 15,8. Das sind: 13 Millionen Menschen. Aha. Okay. Gut. Dann tickern wir das mal.

Nachdem der erste Satz mit der wichtigsten Info steht – 2021: 15,8; 2020: 16,1; 2019: 15,9 … –, reichert man sie dann noch mit den altbekannten Sonderstatistiken an. Auch wenn es sich bei diesen genauso verhält wie bei der Gesamtstatistik: Wie immer sind Menschen ab 65 Jahren (21 Prozent der Frauen, 17,4 Prozent der Männer), Alleinerziehende (26,6 Prozent) und Erwerbslose (47 Prozent) besonders von Armut bedroht. Aber gut, wenn man diese Zahlen schon vorliegen hat, warum soll man sie nicht auch in den Ticker schreiben?

Kalte Zahlen, viele News

Schließlich wird der Ticker mit all diesen Zahlen in die große weite Welt geschickt. Und verschwindet schnell in einem schwarzen Loch. Denn wenn die Zahlen einmal draußen sind, dann geht der Betrieb wie gewohnt weiter. Nicht nur bei Nachrichtenagenturen und Zeitungsredaktionen.

Das mag daran liegen, dass Zahlen für viele Menschen kühl und langweilig sind. Daran, dass sie eben nicht so betroffen machen wie Geschichten über Menschen, die hinter diesen Zahlen stecken.

Das mag daran liegen, dass eine Meldung über Armut, also über Menschen, die bangen, ihre basalsten und banalsten Grundbedürfnisse erfüllen zu können, dass so eine Meldung in Zeiten der digitalen Dauerbeschallung schon mal untergehen kann. Besonders dann, wenn gerade ein Autokrat mal wieder ein Nachbarland überfallen hat. Oder irgendwo mal wieder ein Wald abfackelt. Oder eine Pandemie ausgebrochen ist, die viele Leben raubt.

Vor allem liegt es aber daran: Wenn 15,8 Prozent der Menschen in Deutschland armutsgefährdet sind, dann sind 84,2 Prozent nicht armutsgefährdet. Und es liegt daran, dass eben jeder Mensch sich selbst am nächsten ist, nicht weil der Mensch von Natur aus so ist, sondern weil er so zu sein ansozialisiert bekommt.

Solidarität – aber nur von Betroffenen

Das durfte man in der fast schon vergessenen Eurokrise erfahren, in deren Rahmen reiche nordeuropäische Staaten südeuropäische Staaten und somit ihre europäischen Mit­bür­ge­r:in­nen sozial ausbluten ließen. Oder im Verlauf der ebenso fast schon vergessenen Coronapandemie, bei der nicht Wohlstand, sondern höchstens ein bisschen Applaus und ein paar warme Worte umverteilt worden waren für diejenigen, die Tag für Tag ihre eigene Gesundheit riskierten, um anderen das Leben zu retten.

Die gegenwärtige Preis- und Energiekrise aber könnte selbst die angesichts der jährlichen Armutsstatistiken unbeeindruckten Mit­ar­bei­te­r:in­nen von Statistikamt, Nachrichtenagenturen und Zeitungsredaktionen aufhorchen lassen, weil es so langsam auch um ihren eigenen Arsch geht. Der Schwellenwert für Armutsgefährdung lag 2021 für eine allein lebende Person bei 15.009 Euro netto im Jahr (monatlich 1.251 Euro), für zwei Erwachsene mit zwei Kindern unter 14 Jahren bei 31.520 Euro netto (2.627 Euro im Monat).

Diese Zahlen dürften angesichts der gegenwärtigen und absehbaren Preiserhöhungen nicht mehr als Indikator für eine Trennung zwischen arm und nicht arm taugen. Heißt: Wenn nicht auch die Einkommen steigen, dann heißt die nächste Pandemie in der reichen Industrienation Deutschland: Armut.

Das lässt an das Konfliktthema Wohnen denken. Als die Erfüllung dieses Grundbedürfnis in Metropolen nicht mehr nur für Ärmere, sondern auch Teile der Mittelschicht immer unerschwinglicher wurde, entstanden soziale Bewegungen, die erfolgreiche Kampagnen angeschoben haben.

Vielleicht verschwindet Armut bald auch nicht mehr als Problem der 15,8 Prozent unter anderen Meldungen? Selbst wenn es so kommen sollte: Wie arm ist es, bitte, wenn große Teile einer Gesellschaft, die sich als demokratisch, solidarisch und modern lobt, erst etwas gegen Armut unternehmen, wenn es um die eigene Armut geht?

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