Neue Berater der Wirtschaftsministerin: Reiches marktradikale Experten
Die Wirtschaftsministerin beruft einen Beraterkreis. Er besteht aus neoliberalen Ökonom*innen, die sich für weniger Sozialstaat ausgesprochen haben.

Am umstrittensten: Veronika Grimm, Wirtschaftsprofessorin an der Technischen Universität Nürnberg. Ihr hatte SPD-Bundestagsfraktionsgeschäftsführer Dirk Wiese erst im August eine „neoliberale Herangehensweise“ vorgeworfen, als sie Einsparungen bei der Renten-, Pflege- und Krankenversicherung gefordert hatte. Grimm ist Mitglied der „Wirtschaftsweisen“, also dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, und nicht nur wegen ihrer konservativen Positionen umstritten. Die anderen „Weisen“ werfen ihr Interessenkonflikte vor, weil sie zugleich Mitglied im Aufsichtsrat des Energietechnik-Konzerns Siemens Energy ist.
Mögliche Interessenkonflikte waren auch beim Düsseldorfer Ökonom Justus Haucap ein Thema. Dem einstigen Chef der Monopolkommission wurde vorgeworfen, er habe dem Fahrdienstleister Uber versprochen, PR-Artikel in der FAZ veröffentlichen zu können, wo er als Kurator der Fazit-Stiftung über die redaktionelle Unabhängigkeit der Zeitung wachen sollte. Haucap hatte dem stets widersprochen und betont, dass zwischen seinem Text zur Liberalisierung des Taxi-Marktes und seinem Eintritt in die Fazit-Stiftung mehr als ein Jahr vergangen sei.
Wie Haucap spricht sich auch der einstige Wirtschaftsweise Volker Wieland gerne für eine „angebotsorientierte Wirtschafts- und Finanzpolitik, die mehr Freiraum für private Initiative und Innovationen schafft“, aus. Wieland und Haucap sitzen auch gemeinsam im konservativen Ökonomen-Club „Kronberger Kreis“, dessen Devise „Mehr Mut zum Markt“ lautet. Grimm und Wieland schrieben im Frühjahr zusammen mit Lars Feld, früher Berater des einstigen FDP-Chefs und Finanzminister Christian Lindner, eine Studie für die umstrittene arbeitgebernahe Lobbyinitiative Neue Soziale Marktwirtschaft. Als ordoliberaler „Ultra“ in Reiches Beraterkreis gilt Stefan Kolev vom unionsnahen Ludwig-Erhard-Forum für Wirtschaft und Gesellschaft in Berlin.
Ist die Einberufung von Claqueren nötig?
Fachleute fragen sich, wieso Reiche die Einberufung von Claqueren für die eigene Politik überhaupt für nötig hält. Die Mitglieder des neuen Gremiums sagten ohnehin das, was die immer noch neue Ministerin Reiche propagiere. „Da können nicht viele neue Impulse kommen“, betont ein Experte, der anonym bleiben möchte. Andere sehen in der Berufung des Gremiums auch einen Affront gegenüber den Expert*innen, auf die Reiches Ressort bereits zurückgreifen kann. Dazu gehören die eigenen Beamt*innen, die Wirtschaftsweisen und zudem der sogenannte Wissenschaftliche Beirat, ein weiteres Gremium mit 39 Wissenschaftler*innen, das das Ministerium „ehrenamtlich und unabhängig“ unterstützt, auf dessen Zusammensetzung Reiche also keinen Einfluss hat.
Viele befragte Expert*innen wollten sich gegenüber der taz nicht öffentlich zu den neuen Berater*innen äußern. Anders der emeritierte linke Ökonom Rudolf Hickel. Der Expertenrat sei „eine Kampfansage gegen die bisherige sozial-ökologische Transformation“, so Hickel. Die Mitglieder des neuen Gremiums seien Marktradikale, für die die „Sündenböcke bei Problemen des Marktes“ immer schon feststünden: Es sei „der wuchernde Sozialstaat, die ‚faulen‘ Arbeitslosen, die durch Tarife getriebene Lohnexpansion mit ihren starken Gewerkschaften und schließlich die unter der Steuerlast leidenden Unternehmen“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israels Krieg in Gaza
Forscher sehen einen Genozid
Rechte für Transfrauen
Pack die Badehose wieder ein
Israel und Mathias Döpfner
Bild dir deinen Freund
Umfrage zur Landtagswahl Sachsen-Anhalt
Spitzenwert für Rechtsextreme
Herbst der Reformen
Wenn jemand immer wieder Nein sagt
Ukrainischer Historiker über Selenskyj
„Die Ukraine kauft Zeit für Europa“