Netanjahu in Berlin: Gelernte Lektion anwenden
Kein Weg führt vorbei an der Konfrontation mit Benjamin Netanjahu, will man ein demokratisches Israel retten. Deutschland steht in besonderer Pflicht.
D ie Reise von Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu nach Berlin ist eine gute Gelegenheit für die Bundesrepublik, ihn auf den Platz zu verweisen, der ihm zusteht. Bundesjustizminister Marco Buschmann besuchte im vergangenen Monat Israel und erinnerte behutsam an Demokratien, die sich in der Geschichte der Menschheit selbst zu zerstören wussten, und dass der Macht der Mehrheit keine Grenzen gesetzt seien.
Bundesaußenministerin Annalena Baerbock traf jüngst mit ihrem Amtskollegen Eli Cohen in Berlin zusammen und brachte ihm gegenüber ihre Sorge vor einer Beeinträchtigung der „Unabhängigkeit der Justiz“ zum Ausdruck. Und auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier erklärte bei einem Empfang im Schloss Bellevue anlässlich des 50. Gründungsjubiläums der Universität Haifa, er sei besorgt über den „Umbau des Rechtsstaats“, den die Regierung in Jerusalem plant.
Das ist sehr nett, dass der Präsident und die Minister besorgt sind. Aber es ist keineswegs ausreichend. Dass Deutschland aus dem Zweiten Weltkrieg und den Ruinen der Konzentrationslager gebrochen, zerschlagen, geächtet und auf ewig beschämt hervorging, war nur gerecht. Der Weg zurück zur Völkerfamilie führte völlig klar über die bedingungslose Annahme des Prinzips: Nie wieder! Nie wieder Holocaust! Nie wieder Krieg! Nie wieder eine Diktatur!
Deutschland hat den Holocaust als Teil seiner Identität angenommen und weder die Geschichte ausgelöscht noch davon abgesehen, sich mit diesem düsteren Kapitel auseinanderzusetzen. Deutschland hat mit großer Klugheit den Holocaust zu einem Teil der Identität des Volkes gemacht, kann so in den Spiegel sehen und sich der Scham stellen und aus dieser Scham heraus kommende Generationen erziehen.
ist Forschungsdirektor der israelischen Denkfabrik Mitvim und Dozent für Internationale Beziehungen an der Hebräischen Universität Jerusalem. Zu seinen Schwerpunkten gehören der israelisch-palästinensische Konflikt, die Theorie der Internationalen Beziehungen, Politische Psychologie, Politisches Denken und Konzeptgeschichte. Kibrik ist zudem Mitglied im Kibbuz Mizra.
Zeit für politisches Umdenken
Aus der geschichtlichen Verpflichtung heraus hat sich Deutschland selbst außenpolitische Schranken errichtet und für eine Außenpolitik der Kooperation entschieden, die auf Sicherheit und Stabilität setzt, auf Menschenrechte, Freiheit und Gleichheit. Anstelle eines unabhängigen Handelns strebt die Bundesregierung ein Agieren im Rahmen einer Koalition westlich-liberaler Staaten an. Deutschland unterhält enge Beziehungen zu den USA, ist Mitgliedsstaat der Nato und federführend in der Europäischen Union.
Hand in Hand mit Frankreich treibt Deutschland innerhalb der EU Menschenrechte und Frieden voran, dient als Modell für den Umgang mit Flüchtenden, Menschen mit Behinderung und LGBTQ. All das ist ein komplettes Gegenstück zu den Gräueltaten der Nazis. Deutschland hat sich zum Existenzrecht und der Sicherheit Israels verpflichtet. Die besondere Sorge gilt dem jüdischen Volk und dem Staat Israel.
Reparationszahlungen, die Rückendeckung auf internationaler Bühne, Waffenlieferungen und Vermittlungen bei Verhandlungen mit Drittstaaten haben die Beziehungen beider Staaten über Jahre gefestigt.
Nicht, dass alles perfekt wäre in Deutschland, das vor Korruption oder auch wachsendem Rassismus nicht gefeit ist. Und doch hat die verantwortungsvolle Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und die Umsetzung dieser Lektion in politisches und staatliches Handeln Deutschland nicht nur in die Arme der Völkerfamilie zurückgeführt, sondern einen zentralen Platz unter den führenden liberalen Demokratien der Welt einnehmen lassen.
Die Welt verändert sich, und die Politik muss der sich wandelnden Realität angepasst werden. Auch in Israel verändern sich die Dinge – auf eine Art, die ein politisches Umdenken erfordert. Lange Jahre hat Deutschland dem Besatzungsstaat Israel viele Verbrechen verziehen. Der Umgang mit Minderheiten und Fremden, die Menschenrechtsverletzungen und die massiven Einschränkungen für Menschenrechtsorganisationen – all das steht in direktem Gegensatz zu den Prinzipien, die die deutsche Politik leiten, von der einen Verpflichtung, Israel zur Seite zu stehen, abgesehen.
Angst vor Antisemitismus-Vorwurf
Doch jetzt ändern sich die Vorzeichen auf eine Weise, die es Deutschland ermöglicht, beide Komponenten unter einen Hut zu bringen: die Verpflichtung Israel gegenüber und der Kampf gegen die Diktatur. Israel wird heute angegriffen von einer extrem rechten Regierung, die sich zusammensetzt aus Kriminellen, Korrupten und Messianern, die sich die Zerschlagung des Justizapparats zum Ziel setzt und die Machtkonzentration in den Händen der Exekutive. Wie kaum ein anderes Land müsste Deutschland wissen, was dabei herauskommen kann.
Die Regierung in Berlin muss diese Entwicklungen nicht tatenlos beobachten. Schließlich hat sich Deutschland in der Vergangenheit bisweilen deutlicher gegenüber Israel positioniert. So wurde die Lieferung der deutschen U-Boote so lange aufgehalten, bis Israel zurückgehaltene Gelder an die Palästinensische Autonomiebehörde überwies. Auch heute gäbe es Möglichkeiten – ein verändertes Abstimmungsverhalten in New York oder die schärfere Verurteilung der Besetzung.
Deutschland kann und muss signalisieren, dass die Handelsbeziehungen so wenig in Stein gemeißelt sind wie die Sicherheitskooperation oder Rüstungslieferungen. Deutschland kann und muss Menschenrechtsorganisationen unterstützen, die für Demokratie und Frieden in Israel kämpfen und auf jede nur mögliche Hilfe – sei es finanzieller, politischer oder organisatorischer Art – angewiesen sind.
Ohne Zweifel besteht in Berlin die Sorge davor, dass jede Kritik an Israel umgehend als Antisemitismus gebrandmarkt werden wird. Nicht Israel steht in der Kritik, sondern Israels Regierung. Deutschland trägt Verantwortung für die Existenz Israels und für die Demokratie. Alles andere wäre ein Betrug an den Lehren, die aus dem Holocaust gezogen wurden.
Aus dem Hebräischen von Susanne Knaul
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
Innereuropäische Datenverbindung
Sabotageverdacht bei Kabelbruch in der Ostsee
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört