Nawalny-Sprecherin über Dissidenz: „Wahrheit tut den Machthabern weh“
Sie war selbst in Haft und hat einen Gefängnisroman geschrieben. Ein Gespräch mit Kira Jarmysch, MItarbeiterin des russischen Oppositionellen Nawalny.
taz am wochenende: Kira Jarmysch, als Erstes würde ich mit Ihnen gern über die Situation des Kreml-Kritikers Alexei Nawalny reden, dessen Pressesprecherin Sie sind. Wann hatten Sie zuletzt Kontakt zu ihm und wie geht es ihm aktuell?
Kira Jarmysch: Ich kommuniziere regelmäßig mit ihm über seine Rechtsanwälte. Ich kann ihm eine kurze Notiz übermitteln, und ich bekomme eine ebenso kurze Antwort. Den direkten Kontakt ersetzt das natürlich nicht. Es geht ihm gesundheitlich inzwischen viel besser als vor einigen Monaten. Was seine geistige Widerstandskraft und seinen Mut betrifft, so hat beides nie nachgelassen.
Nawalnys Organisationen wurden im Sommer für extremistisch erklärt und verboten, der Stabschef und Vertraute Leonid Wolkow ist nach Litauen geflohen und gibt von dort aus Interviews. Arbeiten Sie inzwischen auch im Exil?
Ja, ich bin ebenfalls ins Ausland gegangen – wie die meisten Mitarbeiter Nawalnys. Das ist aber nur eine Ortsveränderung, wir arbeiten genauso weiter wie vorher. Aus Sicherheitsgründen kann ich nicht sagen, wo ich mich aufhalte. Ich habe aber nicht die Absicht, nach Moskau zurückzukehren.
Kira Jarmysch, Jahrgang 1989, ist eine russische Journalistin, Schriftstellerin und Aktivistin. Sie studierte Journalistik am Staatlichen Institut für Internationale Beziehungen in Moskau. Seit 2014 ist Jarmysch die Pressesprecherin des derzeit inhaftierten russischen Oppositionspolitikers Alexei Nawalny. Jarmysch wurde mehrmals wegen Aufrufen zu nicht genehmigten Protesten inhaftiert, sie lebt derzeit im Exil.
Fürchten Sie eine längere Haftstrafe?
Wahrscheinlich würde mir eine längere Gefängnisstrafe drohen. Ich habe aber keine Angst vor der Haft, sondern davor, nicht mehr als Sprecherin Nawalnys arbeiten zu können. Von Januar bis August stand ich unter Hausarrest, schon während dieser Zeit konnte ich meine Arbeit nicht machen.
Die Protagonistin Ihres Romans, Anja, wird inhaftiert, weil sie zu einer Demonstration gegen die Regierung aufgerufen hat. Auch Sie waren schon im Gefängnis. Wie wurden Sie dort behandelt?
Ich war in einer Moskauer Arrestanstalt. In Moskau wird man vergleichsweise anständig behandelt. Aber auch dort ist es natürlich nicht angenehm – man darf zum Beispiel nur einmal in der Woche duschen. Was ich in meinem Buch beschreibe, lehnt sich eng an meine eigenen Erlebnisse an. Ich saß schon vier Mal im Arrest, insgesamt 50 Tage.
Warum die fiktionalisierte Form und kein Hafttagebuch?
Ich mag belletristische Literatur lieber als dokumentarische Texte. Der literarische Zugang hat es mir zudem ermöglicht, einige mystische und unerklärliche Dinge – die Halluzinationen und Wahrnehmungsverschiebungen der Hauptfigur Anja – in diesen real beschriebenen Gefängnisalltag einzuflechten. Das fand ich reizvoll, ich bin ein Fan des magischen Realismus.
Ihre Protagonistin ist in einem Frauentrakt inhaftiert. Sie trifft dort auf wenige emanzipierte Frauen, sie selbst hingegen definiert sich als Feministin. Ist das der Spiegel dessen, was Sie erlebt haben?
Die Frauenfiguren würden sich zwar nicht als Feministinnen bezeichnen, aber es sind meines Erachtens sehr mutige Frauen. Was sie machen und wie sie leben, kann man vielleicht schon als feministisch bezeichnen. Die Figuren leben in dem Widerspruch, dass sie einerseits entscheidungs- und handlungsstark sind, andererseits aber ständig den Männern gefallen und sich unterordnen müssen. Pars pro toto dafür steht die Figur Maja, die in „Brust- und Po-Tuning investiert, um reichen Männern zu gefallen“, wie es im Roman heißt. Den Widerspruch müssen sie aushalten.
Wie die Hauptfigur haben auch Sie am Staatlichen Institut für Internationale Beziehungen studiert. Haben Sie – wie die Protagonistin – auch ein Praktikum im Außenministerium gemacht?
Ja. Ich habe an dem Institut studiert, ich habe im Studentenheim gelebt, ich habe ein Praktikum im Außenministerium absolviert. Aber ich werde nicht verraten, bis zu welchem Punkt all das autobiografisch ist, ich will ja nichts spoilern.
Haben Sie im Außenministerium Dinge gelernt und gesehen, die Sie heute als Oppositionelle einsetzen können?
Im Außenministerium habe ich gar nichts gelernt. Was mich am meisten gebildet hat, war das tägliche Leben im Studentenheim.
Sie erwähnen alte russische Rockstars wie Boris Grebenschtschikow (von der Band Aquarium) und Juri Schewtschuk (von DDT). Welche Rolle spielen diese Musiker heute noch in der Opposition?
Die russische Rockmusik hat man schon immer mit Widerstand und Veränderung assoziiert. Viele Lieder sind ins kollektive russische Gedächtnis eingegangen. Musik sieht man als Medium der Veränderung.
Wenn Sie das Leben im Studentenheim so geprägt hat, würde man vielleicht vermuten, dass zum Beispiel jüngere Rap-Musiker:innnen aus Ihrer Generation vorkämen. Eignen die sich nicht zur Identifikation?
Es gäbe sicher auch neuere Musik, die man hätte erwähnen können. Aber zum einen liegt der Zeitraum, den ich im Roman beschreibe, auch schon wieder ein bisschen zurück – die Handlung spielt in den späten nuller und frühen zehner Jahren. Und ein russisches Studentenwohnheim dürfen Sie sich wie eine Zeitkapsel vorstellen: Da ist sehr viel aus der Sowjetzeit geblieben. Die Architektur ist sowjetisch, es gibt einen Holzfußboden und Etagenbetten. Die Studenten spielen im Zimmer Gitarre und trinken im Flur Alkohol. Das ist die alte Welt.
In „Dafuq“ tritt ein Polizist auf, der sagt, er wolle zur Opposition überlaufen. Er wird zunächst als sympathische Figur eingeführt, ehe sich herausstellt, dass er Stalin verehrt. Wie typisch ist eine solche Figur für die russische Opposition?
Natürlich gibt es Menschen, die etwas verändern wollen, aber gar nicht wissen, wie sie ihren Veränderungswillen artikulieren können. Also greifen sie zum Beispiel zur Stalinverehrung. Das ist das Problem eines autokratischen Staates. Wenn die unabhängigen Kandidaten nicht zugelassen werden wie bei den jüngsten Wahlen, machen die Menschen gar nicht die Erfahrung, dass es auch Alternativen gäbe – und welche.
Ist das die einzige Erklärung?
Nein. Es geht auch um den Lebensstandard der Menschen in Russland. Sie wollen besser leben, und sie bilden sich ein, in der Sowjetunion sei alles viel besser geregelt und ein Menschenleben sei mehr wert gewesen. Das ist natürlich eine Illusion. Aber diese Illusion existiert.
Wie ist Ihr Roman in Russland aufgenommen worden?
Beim Publikum kommt er gut an, er ist in der dritten Auflage, etwa 14.000 Exemplare sind verkauft. Die staatlichen Behörden aber versuchen den Verkauf und die Vermarktung zu behindern. Zum einen durfte ich im März nicht an der Moskauer Buchmesse „non/fiction“ teilnehmen, zum anderen prüft die russische Justiz die Inhalte des Romans gerade. „Propaganda für Drogen, Selbstmord und nichttraditionelle sexuelle Verhaltensweisen“ stehen als Vorwürfe im Raum.
Homosexuelles Begehren spielt eine Rolle, verschiedene Modelle von Liebe und Lust kommen vor: Wollten Sie mit dem Roman in Ihrer Heimat denn provozieren?
Überhaupt nicht. Ich wollte keinen politischen Roman schreiben. Aber den heutigen Machthabern in Russland tut alles weh, was wahr ist. Deshalb versuchen sie jetzt wohl auch, den Roman zu verbieten. Ich denke, die Gesellschaft ist gar nicht so repressiv, aber die Machthaber sind es. Der Altersdurchschnitt in der Regierungsfraktion liegt wohl so zwischen 60 und 70, offen für neue Entwicklungen sind die wenigsten. Und weil es nie einen Machtwechsel gibt, kann Russland sich nicht verändern.
Der Roman: Im September ist Kira Jarmyschs Debütroman „Dafuq“ in deutscher Übersetzung erschienen (aus d. Russ. von Olaf Kühl, Rowohlt Berlin 2021, 416 S., 22 Euro). Sie beschreibt darin die Erfahrungen der Protagonistin Anja während eines Haftaufenthalts in einem Moskauer Gefängnis. „Dafuq“ ist Slang für „ the fuck“, also eine Kurzform von „What the fuck“. Im Original erschien der Roman 2020 im Moskauer Corpus-Verlag.
Das Gespräch: Wir trafen Kira Jarmysch in Berlin. Als Dolmetscher fungierte Olaf Kühl.
Kommen wir noch mal zu Alexei Nawalny. Er ist eine Figur, die vielen europäischen Linken als widersprüchlich gilt. Seine früheren fremdenfeindlichen Äußerungen stoßen auf viel Unverständnis, zur Krim sagte er 2014, er würde sie nicht zurückgeben, wenn er Präsident wäre. Wie stehen Sie dazu?
Da muss ich widersprechen, Nawalny hat nie dezidiert xenophobe Äußerungen getan. Eine Zeitlang hat er mit den russischen Nationalisten paktiert, damals war er wohl auch ein Nationalist. Was die Causa Krim betrifft, so spielte er darauf an, dass die Krim ein historisch gewachsenes russisch-ukrainisches Problem ist. Er wollte zu bedenken geben, dass man die Krim nicht mal eben mit einem Fingerschnippen zurückgeben könne, sondern dass es vieler neuer Vereinbarungen und Überlegungen bedürfe, um dieses Problem zu lösen. Nawalny versteht sich in erster Linie als Kämpfer gegen Korruption – dem Hauptproblem Russlands. Er steht zudem für Demokratie, unabhängige Gerichte und eine freie Presse. In diesem Weltbild sehe ich keine Widersprüche.
In früheren Interviews aber hat er aber doch Einwanderer des Öfteren mit Tieren und Eindringlingen verglichen, er hat Kaukasier, Zentralasiaten und Georgier herabgewürdigt.
Im persönlichen Gespräch habe ich so etwas von ihm nie gehört. Ich könnte auch nie mit einem Menschen arbeiten, der nationalistische oder fremdenfeindliche Ansichten hat. Zwei Anmerkungen zu seinen früheren Äußerungen: Zum einen gibt es im Internet eine Masse an Fake-Äußerungen, die er nie getätigt hat. Zum anderen sind da jene Dinge, die er zweifelsohne gesagt hat. Aber auch er ist ein Mensch, der sich entwickelt. In den nuller Jahren hat er sich anders über Flüchtlinge geäußert als heute. Man muss ihm schon zugestehen, dass er als Politiker und Mensch dazulernt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert