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Anstelle von Rassisten marschieren Antirassisten auf Foto: Daniel D. Z. Zylbersztajn

Nachwahl zum britischen ParlamentAlarmstufe Rot

Am Donnerstag könnte Labour den Wahlkreis verlieren, in dem 2016 ein Neonazi die Abgeordnete Jo Cox ermordete. Die schärfste Konkurrenz kommt von links.

S chon um acht Uhr morgens versperren kleine, weiße Lkws der Gemeinde sämtliche Zugänge zum Marktplatz von Batley. Das Polizeiaufgebot wird immer größer, sogar zu Pferd.

Es ist der letzte Samstag vor der Nachwahl im nordenglischen Wahlkreis Batley & Spen am 1. Juli. Die bisherige Labour-Abgeordnete Tracey Brabin ist auf einen Bürgermeisterposten gewechselt. 2016 war Brabin auf Jo Cox gefolgt, die kurz vor dem Brexitreferendum von einem Rechtsradikalen ermordet worden war. Damals standen alle großen Parteien unter Schock und ließen Labour freien Lauf. Diesmal wird es eine ganz normale Nachwahl – und Labour muss zittern.

Batley and Spen besteht aus kleinen Städtchen und Dörfern inmitten der grünen Hügellandschaft West Yorkshires. 2019 blieb der Labour-Wahlkreis trotz großer Erfolge der Konservativen in Nordengland rot. Boris Johnson verspricht nun mit seinem Kandidaten Ryan Stephenson, einem Stadtrat aus Leeds, Investitionen, mehr Polizei und mehr Ausbildung. Sollten die Tories auch hier gewinnen, wäre es ein möglicherweise fataler Schlag für den glücklosen Labour-Chef Keir Starmer.

Auf der Mitte des Marktplatzes hat sich inzwischen Ann Marie Waters eingefunden. Die Dame mit magentaroter Haarpracht ist die Gründerin der Partei For Britain. Davor hatte sie vor Jahren Pegida UK gegründet. Sie hat zur Kundgebung aufgerufen, der bekannte Rechtsextremistenführer Tommy Robinson hat Unterstützung angekündigt.

Waters schiebt sämtliche Probleme der Welt Mus­li­m*in­nen in die Schuhe. In Batley glaubt sie, damit punkten zu können, weil hier im März ein Lehrer laut Medienberichten Morddrohungen erhielt, nachdem er im Religionsunterricht ein Abbild des Propheten Mohammed im Zusammenhang mit Meinungsfreiheit zeigte. Die Bilder aufgeregter muslimischer Männer, die die Schule belagerten, machten das sonst ruhige Batley, dessen einstige Wollwebereien der gähnenden Leere verlassener Fabrikhallen gewichen sind, weltberühmt. Der Lehrer soll aus Angst immer noch versteckt leben.

Die etablierten Parteien machen um diesen Fall im Wahlkampf einen großen Bogen. Auch Jo Cox spielt im Wahlkampf keine Rolle, bis auf die Tatsache, dass Labour-Kandidatin Kim Leadbeater ihre Schwester ist. Die 45-jährige ehemalige Sportlehrerin und Dozentin betont lieber, dass sie immer in diesem Wahlkreis gelebt hat.

Leadbeaters großes Problem ist die Konkurrenz von links: der 66-jährige Politveteran George Galloway. Der einstige Labour-Abgeordnete für Glasgow brach einst wegen des Irakkrieges mit Labour, er gründete danach die Partei Respect, mit der er mehrere Unterhausnachwahlen in Wahlkreisen mit hohem muslimischen Bevölkerungsanteil gewann, nur um sie später wieder zu verlieren. Er tritt gerne im russischen und iranischen Fernsehen auf, besonders als Israelgegner. Mit seiner neuen Workers Party versucht er nun, Batley & Spen zu erobern.

Ein Fünftel der Wäh­le­r*in­nen­ hier sind Muslime, und an sie richten sich seine Sprüche zu Palästina. Früher verglich Galloway gerne den Gazastreifen mit dem Warschauer Ghetto. Heute verkündet er in einem Video: „Die Leute beten in Gaza und Jerusalem für unseren Sieg in Batley und Spen.“ In einem anderen zieht Galloway mit Ex-Labour-Parlamentarier Chris Williamson durch Batley – Williamson wurde von Labour aufgrund antisemitisch verstandener Kommentare suspendiert.

Galloways Wahlkampfbüro befindet sich in einer leeren Bar. In einem Karton liegen Flugblätter für Sanktionen gegen Israel, in einem anderen Botschaften an Weiße: Labour werde „von einer Londoner Bourgeoisie mit Hilfe von Brigaden von Woke-Kämpfer*innen der sozialen Medien geführt“, und: „Unterstützt Großbritannien, sagt Nein zu Woke, beseitigt Starmer!“ Eigentlich sind das Parolen der Rechten.

Ein nicht zu unterschätzender Demagoge: George Galloway Foto: Daniel Zylbersztajn-Lewandowski

Bei einer Wahlveranstaltung per Zoom zeigt sich, dass Galloway ein nicht zu unterschätzender Demagoge ist. Seine Angriffe gegen die konservative Misswirtschaft unter der Pandemie und gegen den Schritt der hiesigen Labour-Regionalbehörde, die ehemalige Polizeiwache von Batley billig zu verkaufen, sitzen so wie keine anderen.

„Die Labour-Partei ist bei der weißen Arbeiterklasse in Ungnade gefallen“, analysiert Galloway im Gespräch mit der taz im Park. Er trägt ein schwarzes Jackett zum weißen gebügelten Hemd mit Blumenmuster, einen Hut wie immer, und er riecht stark parfümiert. Seine neue Arbeiterpartei symbolisiere die alte Labour-Partei. „Cox wurde für das ermordet, an das sie glaubte. Jene, die glauben, dass das richtig ist, könnten auch mich angreifen.“ Aber kann er etwas bewirken, wenn er gewinnt? „Ich werde das als Bühne benutzen, um Menschen zu bekehren“, sagt er. Und wenn er nicht gewinnt, die linken Stimmen spaltet und den Sitz den Tories schenkt? „Die Konservativen werden ohnehin noch lange an der Macht sein“, rechtfertigt er sich.

Simple Boschaft: Ich bin von hier, ich höre euch zu

Kim Leadbeater sehen die Leute eher in den sozialen Medien. Horden von Labour-Ge­nos­s*in­nen verteilen außerdem Flugblätter im ganzen Wahlkreis. Ihre Botschaft ist simpel: Ich bin von hier, ich höre euch zu, ich werde euer Sprachrohr in Westminster sein. Von Jour­na­lis­t*in­nen hält die Partei ihre Kandidatin fern. Wer Labours Wahlkämpfe kennt, weiß, was das bedeutet: Die Lage ist ernst. An den Fenstern des Labour-Wahlkampfzentrums kleben Plakate mit „Kim“ in Kursivschrift. Es sieht aus wie eine neue Sektmarke.

Was halten die Wähler von all dem? Viele langjährige Labour-Wähler wollen der Partei treu bleiben: Leadbeater sei in Ordnung, sagt der 30-jährige Ahmar Lambat; Galloway könne wenig bewirken, findet Bettenfabrikant Muhammad Najam. Nasser und seine Frau Ria, beide 36 – sie nennen ihren Nachnamen nicht – wollen zu Galloway wechseln, „damit Labour wieder auf arbeitende Menschen hört“. Es sei außerdem eine Stimme „gegen den Zionisten Keir Starmer“.

An einer stark befahrenen Straße im Städtchen Heckmondwike sind Ehepaar Sean und Angela Hodge, beide um die 50 Jahre alt, in ihrem Staubsaugerladen gegen Verkehrslärm und gegen Labour. Sie mochten Jo Cox und auch die scheidende Abgeordnete Tracey Brabin. Aber Kim Leadbeater sei von der Labour-Parteizentrale über die Köpfe lokaler Kandidat*in­nen hinweg ausgesucht worden.

Hodge ist nicht der Einzige, der moniert, dass Leadbeater erst vor acht Wochen überhaupt Labour-Mitglied wurde. Galloway aber sei aufgeblasen, und dass Leadbeater nun in Reaktion auf ihn ebenfalls von Palästina und Kaschmir rede, sei verfehlt. „Wir haben genug Probleme vor Ort, etwa dass es in dieser Marktstadt keinen Markt mehr gibt“, findet Sean. „Als Mitglied der weißen Be­woh­ne­r*in­nen hier – ich weiß, das hört sich vielleicht etwas seltsam an –, möchte ich nach all den Versuchen der Gleichberechtigung für andere, dass sich Leute auch für unsere Belange einsetzen. Diese Gegend war einst begehrenswert. Heute haben wir nichts als Gebrauchtwarenläden, Billigläden, Wettbüros und lauten Durchgangsverkehr.“

Diese Gegend war einst begehrenswert. Heute haben wir nichts als Gebrauchtwarenläden, Billigläden, Wettbüros und lauten Durchgangsverkehr

Wähler Sean Hodge

Gegen neun Uhr an diesem Samstagmorgen ist Ann Marie Waters immer noch alleine auf dem Marktplatz von Batley. Am Rand sitzt eine ältere Frau auf einer Bank. „Ich stimme mit Menschen wie Waters und Robinson überein“, sagt sie. Sie versichert sich mit ihrer Bekannten neben ihr, ob sie es der taz erzählen soll. Sie will nicht mit Namen genannt werden. Dann holt sie tief Luft, bevor Tränen sie überkommen. „Am Anfang der Pandemie, letztes Jahr, hat ein Mann pakistanischen Hintergrunds aus der Gegend meine 14-jährige Enkelin vergewaltigt“, erzählt sie. Sie wisse, wer es war, doch die Polizei sei desinteressiert und würde nicht ermitteln. Stattdessen würde sie als Rassistin beschimpft und bespuckt.

Jahrelang stand die Polizei der Nachbarregion South Yorkshire im Zwielicht, weil sie aus Angst vor Rassismusvorwürfen nicht gegen pakistanischstämmige Gangs ermittelte, die vulnerable weiße Mädchen in die Prostitution zwangen. Manche Täter wurden inzwischen gefasst und verurteilt. Aber für die alte Frau baut sich jetzt wieder ein Bild einer Polizei auf, die muslimische Sexualverbrecher schützt – obwohl eine ihrer eigenen Töchter einen Mann pakistanischer Abstammung geheiratet hat. Sie sagt, sie sei keine Rassistin. Und sie hofft, dass ihre Enkelin keine Burka tragen werde.

Für Rassisten sind Menschen wie diese alte Frau wiederum gefundenes Fressen. Aber nur wenige erscheinen am Marktplatz. Statt ihrer bauen An­ti­ras­sis­t*in­nen der Gruppe Stand Up To Racism eine Gegendemo auf. Bald sind es mehrere Hundert gegen weniger als fünfzig Rechte. Die rechtsradikale Kandidatin muss sich geschlagen geben. Aus dem Tag der Ultrarechten wird eine antirassistische Veranstaltung mit Infoständen und Trommeln.

Ashiq Hussain aus Bradford ist einer der Organisatoren. „Überall, wo Ras­sis­t*in­nen auftreten wollen, organisieren wir Kampagnen. Oft stehen wir auch der muslimischen Gemeinschaft bei, die von der Polizei mit Vorurteilen behandelt wird“, beteuert der vollbärtige Mann mit gelber Sicherheitsweste. Dann erwähnt er, dass er nicht mehr bei Labour sei, seit die Partei nicht mehr von Jeremy Corbyn geführt werde. „Keir Starmer unterstützt Israel, nicht Palästina und Kaschmir“, kritisiert er.

Am Abend werden La­bour­-Un­ter­stüt­ze­r*in­nen angegriffen

Dem pensionierten Sozialarbeiter Hanif Mayet bereitet die Spaltung der Linken schlaflose Nächte. Nahezu sein Leben lang war der 65-Jährige bei Labour, von 2002 bis 2014 sogar als Stadtrat. Labour, findet er, habe mit Tony Blair gut angefangen, sei dann aber mit dem Irakkrieg vom Weg abgekommen. Von Blairs zahlreichen Nachfolgern hält er wenig. Starmers Hauptproblem sei Glaubwürdigkeit.

Dann zeigt er ein frisches Video auf seinem Handy, wie vor der Moschee von Batley ein Mann Kim Leadbeater zur Rede stellt. Sie wollte mit Mus­li­m*in­nen nach dem Freitagsgebet sprechen. „Britische Muslime haben niemanden im Parlament, der sich für sie und für Palästina einsetzt“, sagt der Mann aufgeregt, während die Labour-Kandidatin in ihrem Auto flüchtet, und: „Labour ist eine Fassade. Eure Farbe ist rot, die Farbe von Blut.“

Mayet befürwortet dieses Verhalten nicht. Aber er fragt sich, was sich Leadbeater dabei gedacht hätte, ausgerechnet freitags zur Moschee zu kommen. „Ich werde Galloway wählen, als Proteststimme“, attestiert er.

Kim Leadbeater, Schwester der ermordeten Abgeordneten Jo Cox Foto: Daniel Zylbersztajn-Lewandowski

Am Sonntagabend werden schließlich La­bour­-Un­ter­stüt­ze­r*in­nen auf offener Straße angegriffen und einige verprügelt. Die Polizei ermittelt, doch wer die Täter waren, darüber macht sie keine Angaben. Ebenfalls ist nicht bekannt, wer die gefälschten Labour-Flugblätter zu verantworten hat, die behaupten, dass Labour „Weißsein“ als Problem sehe und Black Lives Matter unterstütze. Am unteren linken Rand steht: „Labour im Kampf gegen weiße Privilegien.“ Dass diese Botschaft Weiße verunsichern soll, ist offensichtlich.

Kim Leadbeater behauptet inzwischen, dass beim Vorfall vor der Moschee am Freitag George Galloway auf der anderen Seite der Straße stand und lächelte.

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4 Kommentare

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  • Daniel Zylbersztajn-Lewandowski , Autor des Artikels, Auslandskorrespondent Großbritannien

    Ich habe für interessierte ein paar mehr Bilder und extra Text hochgeladen, der nicht nicht mehr in die taz passte, oder nicht ganz relevant für den Artikel war. Wer diese Ergänzungen sehen oder lesen möchte und es interessiert, sie sind auf meinem Instagram Konto hier www.instagram.com/reporting_gb/. With best wishes from London! D

    • @Daniel Zylbersztajn-Lewandowski:

      Ich hab aber kein Interesse, mich bei Instagram anzumelden. Diese Zuckerbergdatenkrakeneinwerbung nervt.

  • George Galloway - guter Typ. Kippt Starmer hoffentlich aus dem Amt.

  • Mich gruselt.