Nachtprotest am Reichstag: Barrierefrei dazugehören

Über Nacht haben sich AktivistInnen am Reichtagsufer angekettet. Sie fordern Barrierefreiheit in Betrieben und mehr Geld für Assistenz.

Menschen in Rollstühlen am Reichstagsufer der Spree, im Hintergrund Reichstag und Paul-Löbe-Haus

Zum Glück war die Nacht warm: Protest am Mittwochabend am Reichstagsufer Foto: dpa

BERLIN taz | Manchmal muss man Namen nennen. Karstadt-Kaufhäuser etwa sind besser als ihr Ruf, weil man stufenlos hineinrollen kann und die Gänge breit genug für Rollstühle sind. Auch Dunkin` Donuts sind fortschrittlich: In vielen Filialen gibt es Behindertenklos. Die Berliner-U-Bahn ist wegen der Sprachansagen und der geriffelten weißen Bodenflächen, die vor einem Bahnsteig warnen, für Blinde gut benutzbar. Und auch für Gehbehinderte – „wenn es einen Aufzug gibt und der nicht grade kaputt ist“, sagt Antje Claaßen-Fischer.

Die 47jährige Rollstuhlfahrerin und Diplom-Sozialpädagogin hat eine aufregende Nacht hinter sich. Zusammen mit anderen Gehbehinderten hat sie sich am Reichtagsufer anketten lassen. „Damit die Polizei uns nicht einfach wegfahren kann“, erklärt sie. Schließlich befand man sich innerhalb der Bannmeile und angemeldet war die Aktion auch nicht.

„Ich pfeife auf euer (Spar)gesetz, echte Teilhabe jetzt“ steht auf dem Pappschild an Claaßens Rollstuhl. Assistent Benjamin schiebt der sorgfältig geschminkten Schwarzhaarigen die Baseballmütze zurecht, um sie vor der Vormittagssonne zu schützen. Wegen einer Muskelerkrankung kann sie Arme, Beine und Kopf nicht bewegen.

Am Mittwochabend waren etwa 70 Rollstuhlfahrer mit ihren Assistenten zum Demonstrieren gekommen, erzählt Claaßen. Einige gehörlose und blinde Menschen gesellten sich dazu. Ein Teil hielt die ganze Nacht durch. Zum Glück gab es ein paar Lokale mit Behindertentoiletten in der Umgebung.

Mehr Druck auf die Privatwirtschaft

Das Durchhalten hatte einen Grund: am Donnerstag stimmte der Bundestag über die Weiterentwicklung des „Behindertengleichstellungsgesetzes“ ab. Gegen das richtet sich der Protest genauso wie gegen das „Bundesteilhabegesetz für Behinderte“, dessen Entwurf sich noch in der Ressortabstimmung zwischen den Ministerien befindet.

Zum Glück gab es ein paar Lokale mit Behindertentoiletten in der Umgebung

Im Gleichstellungsgesetz vermissen die Behinderten Druck auf die Privatwirtschaft: „Wir fordern, dass auch die zur Barrierefreiheit verpflichtet wird“, sagt Sigrid Arnade, Geschäftsführerin der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben und Mitinitiatorin der Protestaktion. Restaurants, Kneipen oder Kinos müssten auch nach Verabschiedung des Gesetzes keinen Zugang für Menschen im Rollstuhl ermöglichen.

„Nicht mal bei Neu- oder Rohbauten gibt es die Verpflichtung zur Barrierefreiheit“, sagt Claaßen. In den USA hätten Gaststätten zwar nicht die Verpflichtung, nach Geschlechtern getrennte Toiletten anzubieten – dafür müssten sie rollstuhlgeeignete Sanitärräume haben. Das würde Claaßen auch für Deutschland akzeptieren.

Alter: 7,5 Millionen schwerbehinderte Menschen leben in Deutschland. Nahezu ein Drittel von ihnen ist 75 Jahre und älter. Knapp die Hälfte (45 Prozent) gehört der Altersgruppe zwischen 55 und 75 Jahren an, 2 Prozent sind jünger als 18.

Familie: Behinderte im Alter zwischen 25 und 44 Jahren sind häufiger ledig und leben öfter allein als Nichtbehinderte in dieser Altersklasse. 67 Prozent der Behinderten in dieser Altersklasse sind erwerbstätig oder suchen nach einer Tätigkeit.

Behinderung: Zwei von drei schwerbehinderten Menschen hatten körperliche Behinderungen, 5 Prozent waren blind oder fast blind. (bd)

Doch lästige Stufen, kaputte Aufzüge und fehlende Behindertentoiletten, die durch das Gesetz nicht wirklich angegangen werden, sind nur das eine Problem. Das Zweite ist der „Assistenzbedarf“. Claaßen etwa braucht aufgrund ihrer Krankheit eine 24-Stunden-Assistenz. Sie arbeitet von zuhause aus, im Telefonmarketing. Ihr Ehemann arbeitet Vollzeit als Diplom-Ingenieur. Er übernimmt die Betreuungungs-Nachtschicht – doch tagsüber müssen andere, bezahlte Kräfte ran. Das kostet 8.000 Euro pro Monat.

Ein großer Teil des Einkommens des Ehepaares wird auf die Kosten dafür angerechnet, beim Vermögen bleibt nur ein geringer Freibetrag. Daran verbessert das neue Gesetz wenig, im Gegenteil: Durch neue Anrechnungsmodalitäten für jene, die etwas besser verdienen, würden die Claaßens pro Monat 400 Euro weniger zur Verfügung haben.

Geringer Freibetrag zum sparen

Auch Jenny Bießmann ist ernüchtert. Die 29jährige studiert Erziehungswissenschaften und Gender-Studies und arbeitet als Beraterin für Menschen mit Behinderungen. Sie lebt allein, braucht aufgrund einer spinalen Muskelatrophie aber eine 24-Stunden-Betreuung. Später möchte sie Vollzeit in der Beratung arbeiten. „Mir werden von meinem Einkommen dann nur ein Freibetrag in Höhe des doppelten Regelsatzes zu Hartz IV und der Mietkosten belassen“, sagt die energische Blondine, „ansparen kann ich auch so gut wie nichts“.

Mit Claaßen, Bießmann und den anderen haben auch die 70jährige Carola Szymanowicz und ihr Mann Hans-Joachim die Protestnacht durchgehalten. Die studierte Diplom-Ingenieurin ist von Geburt an gehörlos – und erwartet sich ebenfalls keine Verbesserungen von den neuen Gesetzen.

„Wir bräuchten einen Rechtsanspruch auf ein bestimmtes Budget für Gebärdendolmetscher“, sagt die Renterin und aktive Sozialdemokratin. Im privaten Bereich, etwa in Banken, beim Kurs in der Volkshochschule oder im Naturschutzverein, müsste sie den selbst bezahlen. Ihr Ehemann bedauert: „Sowas kann man sich als Rentner kaum leisten“.

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