Nachruf auf Gerd Ruge: Einer der Wichtigsten
Der Journalist Gerd Ruge ist im Alter von 93 Jahren in München gestorben. Er war Chronist von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis heute.
Dieses Nuscheln. Käme heutzutage ein Nachwuchsjournalist daher, der so wie Gerd Ruge dazu neigt, Worte mehr zu kauen als zu sprechen, er oder sie hätte wohl keine Chance, jemals ein Mikrofon auch nur aus der Nähe zu betrachten. Bei Ruge aber war sein Mundwerk eines seiner Markenzeichen, so wie die einfachen Fragen und seine unstillbare Neugier. „Ich finde, wenn man zu deutlich spricht, hat das so etwas Lehrerhaftes“, sagte er einmal.
Am Freitag vergangener Woche ist Gerd Ruge im Alter von 93 Jahren in München gestorben. Einen Nachruf über diesen großen Reporter zu schreiben, birgt die Gefahr, sentimental zu werden, gar von den „guten alten Zeiten“ zu schwärmen, die bekanntlich gar nicht so gut waren. Denn Ruge war das Gegenteil eines Reporters, wie sie heute in aller Regel im Fernsehen auftreten. Der gebürtige Hamburger neigte niemals zur Hektik, er lehnte geistige Schnellschüsse ab, spielte sich nicht auf, sondern blieb seinem Stil treu: mit ruhigen Fragen dem Zuschauer Einsicht in Entwicklungen in der Welt zu geben. Nicht er selbst gab die großen Analysen ab, er überließ es den Menschen vor Ort, ob in Sibirien, Texas oder Peking, zu erklären, wo ihnen der Schuh drückt.
Dieses Fragende und Zurückhaltende machte den Ruge-Stil aus. Eines seiner Markenzeichen war es, sich selbst nicht in den Vordergrund zu hieven.
Es gab wohl nur wenige Momente, in denen er von dieser Erzählweise abwich. Das Attentat auf Robert Kennedy im Jahr 1968 war so ein Augenblick, als Ruge gestand, dass ihm die Worte fehlten, den Mord hier und sofort einordnen und kommentieren zu können.
Freundlich und niemals belehrend
Ruges wichtigste Eigenschaft war seine Neugier. Noch im Alter von über 80 Jahren drehte er für den WDR Reportagen unter dem Titel „Mit Gerd Ruge unterwegs“, die das deutlich machten. Er war das Gegenteil eines Rentners, schrieb Bücher über Bücher. Im persönlichen Gespräch aber blieb er zurückhaltend, freundlich und niemals belehrend, auch jüngeren Kollegen gegenüber.
Gerd Ruge war ein Chronist von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis heute. Er hat die ganze Welt bereist. Als erster westdeutscher Reporter durfte er ab 1950 aus Jugoslawien berichten, und auch in Moskau war Ruge der erste ARD-Vertreter überhaupt.
Von 1964 bis 1969 arbeitete Ruge als ARD-Korrespondent in den USA, später sah man ihn wieder in Russland, mit dessen Menschen er sich besonders verbunden fühlte. Fast vergessen ist seine Zeit als Leiter des WDR-Hauptstadtbüros in Bonn ab 1970, nahezu zeitgleich mit dem Beginn der ersten sozialliberalen Koalition. Danach zog es ihn nach Peking, diesmal für die damals noch wichtige Tageszeitung Die Welt.
Fenster zur Welt
Viel später gestand Ruge, dass der journalistische Umgang mit regierenden Politikern schwierig sei, weil sich der Erkenntnisgewinn doch in aller Regel sehr in Grenzen hielte. Interessanter fand er da schon gerade entmachtete oder erst kurz vor ihrer Karriere stehende Frauen und Männer.
Vor allem aber hat Gerd Ruge den Westdeutschen – und auch manchem DDR-Bürger – das Fenster zur Welt weit geöffnet. Seine Berichte aus dem Ausland machten den jungen Bundesrepublikanern deutlich, dass sie eben nicht am Nabel der Welt sitzen und dass anderswo Menschen lebten, die ganz andere Probleme hatten. Ruges Auslandsreportagen kann man deshalb auch als Teil der Demokratisierung von Deutschland nach dem Krieg lesen.
Gerd Ruge hat den Deutschen beigebracht, sich nicht so wichtig zu nehmen in der Welt. So, wie er selbst sich nicht so wichtig genommen hat. Dabei war er einer der Wichtigsten.
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