Nach der Wahl in der Türkei: Die Liebe zum Reis

Der von Erdoğan geförderte Islamo-Nationalismus hat es der türkischen Opposition schwer gemacht. Für die Stichwahl stehen ihre Chancen eher nicht gut.

Eine Frau trägt ein Stirnband mit dem Namen von Recep Tayp Erdogan

Eine Anhängerin von Präsident Recep Tayyip Erdoğan am vergangenen Sonntag in Istanbul Foto: Francisco Seco/ap

„Ich liebe Erdoğan!“ Der Satz hört sich in deutschen Ohren wohl an wie ein Witz, zumindest wie eine Übertreibung. Wer würde schon ernsthaft sagen „Ich liebe Merkel“? Tatsächlich gibt es aber in der Türkei Hunderttausende Menschen, die das ernsthaft behaupten.

Sie lieben und verehren ihren „Reis“, ihren Führer, ohne Abstriche. Eine bittere Erkenntnis aus dem Ergebnis der ersten Runde der Präsidentschaftswahl ist, dass die Gruppe dieser bedingungslosen Er­do­ğan-Verehrer offenbar doch größer ist als zuletzt angenommen.

Einige Beobachter sprechen von einem in 22 Jahren Erdoğan-Herrschaft analog zum Kemalismus neu entstandenem „Erdoğanismus“, einem ideologischen Amalgam von Islam und Nationalismus, in dem diese AnhängerInnen voll aufgehen. Menschen, die ihr Selbstwertgefühl daraus beziehen, dass Er­doğan angeblich eine Türkei geschaffen hat, die sich vom Westen nicht mehr gängeln lässt, die militärisch stark ist, die ihre eigenen Regeln setzen kann.

Das wird unterstützt durch eine zweite Komponente, die von vielen Beobachtern unterschätzt wurde. Er­do­ğan geriert sich als der wahre Führer des sunnitischen Islam, der dort wieder ansetzt, wo die Türkei mit dem Untergang des Osmanischen Reichs diesen Status verloren hat.

Nicht nur Muslimbrüder haben für Erdoğan getrommelt

Erdoğan hat Istanbul zum Zentrum der Muslimbruderschaft gemacht, die gerade jetzt, wo sich abzeichnet, dass der syrische Diktator Baschar al-Assad seine Macht wieder konsolidieren kann, für ihre Basis in Istanbul kämpft. Aber nicht nur die Muslimbrüder haben für eine Wiederwahl Erdoğans getrommelt, von den Taliban im Osten bis zu diversen libyschen Scheichs im Westen haben alle zu Erdoğans Wahl aufgerufen. Für seine Anhänger in der Türkei ein klares Zeichen, dass ihr „Reis“ tatsächlich der Führer der islamischen Welt ist.

Die Opposition hat diesem Islamo-Nationalismus die Rückkehr zur Demokratie, Gerechtigkeit und Freiheit entgegengestellt. Sie hat damit mehr Menschen erreicht als jemals zuvor seit Erdoğans Machtantritt. Sie kann etwas Neues anbieten, während Erdoğan nur mehr vom Alten verspricht. Die Jugend des Landes ist deshalb überwiegend auf ihrer Seite, doch es gibt viele Skeptiker, die der Opposition nicht zutrauen, eine stabile Regierung zu bilden.

Erdoğan hat, durch welche Umstände auch immer begünstigt, vielen Menschen einmal einen bescheidenen Wohlstand gebracht

Denn außer denen, die Erdoğan lieben, und denen, die nach Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit streben, sind die meisten, die es zu gewinnen gilt, diejenigen, die erst einmal auf ihren Vorteil schauen. Notgedrungen sind das viele Menschen, die durch die Wirtschaftskrise in existenzielle Not geraten sind. Oppositionsführer Kılıç­dar­oğlu hat diesen Menschen versprochen, ihre Situation zu verbessern, die Inflation zu bekämpfen und die Preise damit wieder zu senken. Doch gute Wirtschaftspolitik ist schwer in massentaugliche Parolen zu bringen.

Erdoğan hat viele zum Wohlstand gebracht

Entscheidend ist, ob demjenigen Politiker, der sie verspricht, genügend Kompetenz dafür zugetraut wird. Erdoğan hat, durch welche Umstände auch immer begünstigt, vielen Menschen vor zehn Jahren einmal einen bescheidenen Wohlstand gebracht. Trotz seiner katastrophalen Wirtschaftspolitik der letzten Jahre bleibt ein Rest von Vertrauen in den „Reis“, die Leute kennen ihn; Kılıçdaroğlu wäre da erst einmal ein Sprung ins Ungewisse. In unsicheren Zeiten ist Angst ein starkes Motiv, viele Leute wollen dann eben keine Experimente wagen. Dazu kommt das Jahr für Jahr größer gewordene Heer von Opportunisten, die durch das Erdoğan-Regime zu Jobs und Privilegien gekommen sind, die sie nicht verlieren wollen.

Außerdem sitzt der Präsident auch während der Wahl an den Hebeln der Macht. Immer mehr Indizien sprechen dafür, dass es in größerem Umfang zu Manipulationen gekommen ist. Für die Stichwahl in einer Woche sind das keine guten Aussichten. Die Opposition scheint ihr Potenzial ausgeschöpft zu haben und wenn sie Wahlbetrug in der ersten Runde nicht verhindern konnte, wird es ihr auch in der zweiten kaum gelingen.

Kılıç­dar­oğlu schwingt nationalistische Keule

Kılıç­dar­oğlu versucht nun, durch eine stärker nationalistische Ansprache noch Wähler des ausgeschiedenen dritten Präsidentschaftskandidaten, des Rechtsaußen Sinan Oğan, auf seine Seite zu ziehen. Das wirkt wenig überzeugend, eher wie aus Verzweiflung geboren.

Denn wenn er nun frühere Versuche Erdoğans, mit der PKK zu verhandeln, als Zugeständnisse an Terroristen geißelt, verschreckt er nur kurdische Wähler, und ob er mit dem Versprechen, sofort nach einem Wahlsieg alle Flüchtlinge abzuschieben, mehr Rechtsaußen-WählerInnen gewinnen kann, als andere zu verprellen, ist sehr fraglich. „Natürlich können wir noch gewinnen“, sagte einer der Architekten des Opposi­tions­bündnisses, „das käme aber einem kleinen Wunder gleich.“ In der Türkei ist allerdings alles möglich, wie jeder Beobachter hier schnell lernt.

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