Nach der Europa-Wahl: EU-Parlament durcheinandergewirbelt

Weder Konservative noch Sozialdemokraten haben eine Mehrheit – wer wird die Kommission leiten? Unterdessen gewinnen Liberale, Grüne und Rechte.

Frans Timmermans und Manfred Weber stehen vor dem TV-Duell zur Europawahl für ein Foto zusammen

Wer wird nachgeben? Frans Timmermans und Manfred Weber haben jeweils keine eigene Mehrheit gewonnen Foto: dpa

Brüssel taz | Mit einer ungewöhnlich hohen Wahlbeteiligung haben die Bürger der EU die Karten im Europaparlament völlig neu gemischt. Die Straßburger Kammer wird grüner und liberaler, wie das vorläufige Ergebnis der Europawahl zeigt.

„Es ist fantastisch, so viel Vertrauen zu bekommen“, freute sich die Spitzenkandidatin der Grünen, Ska Keller. „Das Monopol der Macht ist gebrochen“, erklärte Margrethe Vestager von den Liberalen. Die etablierten Parteien müssten die Macht teilen und mit dem Status Quo brechen.

Doch die „grüne Welle“ und die liberale „Renaissance“ haben ihren Preis: Erstmals seit 1979 stehen die zwei größten Blöcke – die Europäische Volkspartei (EVP) und die Sozialdemokraten (S&D) – ohne eigene Mehrheit da. Die politische Mitte, auf die sich die EU bisher wie selbstverständlich stützte, ist geschrumpft und zersplittert.

Am Wahlabend trösteten sich die Etablierten damit, dass sich die Menschen endlich wieder für Europapolitik begeistern. Die Wahlbeteiligung lag mit 50,5 Prozent höher denn je in den letzten 20 Jahren. Damit habe sich die Kampagne des Parlaments („Diesmal wähl’ ich“) ausgezahlt, freute sich Parlamentssprecher Jaume Duch Guillot.

Dies sei eine gute Nachricht für die europäische Demokratie, erklärten Politiker aller Parteien. „Die EU-Demokratie lebt“, sagte EVP-Spitzenkandidat Manfred Weber. Die hohe Beteiligung sei ein „Signal für den Wandel“, erklärte sein Rivale Frans Timmermans von der S&D.

Italienische Lega gibt den Ton bei den Rechten an

Die schlechte Nachricht ist, dass die Rechtspopulisten und Nationalisten trotz massiver Warnungen der proeuropäischen Parteien erneut zugelegt haben. In Italien und Belgien führt kein Weg mehr an ihnen vorbei. In Frankreich liegen die Rechten sogar vor der Regierungspartei LREM von Präsident Emmanuel Macron.

Nationalisten-Führerin Marine Le Pen kam auf rund 24 Prozent der Stimmen, Macrons Bewegung nur auf 22 Prozent. Nun peilt Le Pen eine neue Allianz mit der italienischen Lega, der deutschen AfD und anderen Rechtsparteien an.

Die Lega dürfte dabei den Ton angeben – sie kam nach Schätzungen auf 32 Prozent. Insgesamt dürften die Rechtspopulisten und Nationalisten im neuen Europaparlament 58 Sitze erobern. Bisher gehörten der Fraktion Europa der Nationen und der Freiheit (ENF) nur 36 Mitglieder an.

Den größten Zuwachs erzielen allerdings die Liberalen. Sie dürften von 67 auf 107 Sitze anwachsen und könnten somit das Zünglein an der Waage spielen, wenn es um die Wahl des nächsten EU-Kommissionspräsidenten geht.

Ein gewichtiges Wort wollen aber auch die Grünen mitreden. Ihre Fraktion hätte laut der Projektion nun 70 Sitze – 20 mehr als zu Beginn der Wahlperiode 2014. „Diese Wahl ist ein gesamteuropäisches Signal für mehr Klimaschutz“, jubelte Keller. „Das Ergebnis verstehen wir als Auftrag, bei diesem Thema nun endlich für Handlungen zu sorgen.“ Ihr grüner Parlamentskollege Sven Giegold sprach sogar von einem „Sunday for Future“.

Schwierige Koalitionsverhandlungen

Demgegenüber herrschte bei den Sozialdemokraten der Katzenjammer. Das Wahlergebnis sei eine „tiefe Enttäuschung“, sagte der SPD-Politiker Udo Bullmann. „Das Klima-Thema hat alles beherrscht, und das läuft nun mal unter dem grünen Label.“ Vor allem junge Menschen hätten für die Öko-Partei gestimmt und die Genossen links liegen lassen.

Im Europaparlament bereitet man sich nun auf ungewöhnlich schwierige Koalitionsverhandlungen vor. Dabei könnten auch die Spitzenkandidaten Federn lassen. „Ich kann heute keinen Sieg feiern“, räumte der CSU-Politiker Weber ein. Dennoch habe die EVP, in der CDU und CSU den Ton angeben, nun ein Anrecht „zu führen“.

Weber ist jedoch nicht der einzige, der einen Führungsanspruch erhebt. Die ist Lage völlig anders als bei der letzten Europawahl vor fünf Jahren. Damals reichten die Sozialdemokraten dem Wahlgewinner Jean-Claude Juncker von der EVP sofort die Hand; er wurde dann Kommissionschef.

Diesmal zeichnet sich eine schwierige Verhandlung zwischen den Parteien und ihren Spitzenkandidaten ab. Entschieden wird der Streit aber nicht mehr nicht von den Wählern, sondern von den Staats- und Regierungschefs. Sie wollen sich am Dienstag zu einem Sondergipfel in Brüssel treffen, um über das Ergebnis der Europawahl zu beraten.

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