Nach der Europa-Wahl: EU-Parlament durcheinandergewirbelt
Weder Konservative noch Sozialdemokraten haben eine Mehrheit – wer wird die Kommission leiten? Unterdessen gewinnen Liberale, Grüne und Rechte.
Brüssel taz | Mit einer ungewöhnlich hohen Wahlbeteiligung haben die Bürger der EU die Karten im Europaparlament völlig neu gemischt. Die Straßburger Kammer wird grüner und liberaler, wie das vorläufige Ergebnis der Europawahl zeigt.
„Es ist fantastisch, so viel Vertrauen zu bekommen“, freute sich die Spitzenkandidatin der Grünen, Ska Keller. „Das Monopol der Macht ist gebrochen“, erklärte Margrethe Vestager von den Liberalen. Die etablierten Parteien müssten die Macht teilen und mit dem Status Quo brechen.
Doch die „grüne Welle“ und die liberale „Renaissance“ haben ihren Preis: Erstmals seit 1979 stehen die zwei größten Blöcke – die Europäische Volkspartei (EVP) und die Sozialdemokraten (S&D) – ohne eigene Mehrheit da. Die politische Mitte, auf die sich die EU bisher wie selbstverständlich stützte, ist geschrumpft und zersplittert.
Am Wahlabend trösteten sich die Etablierten damit, dass sich die Menschen endlich wieder für Europapolitik begeistern. Die Wahlbeteiligung lag mit 50,5 Prozent höher denn je in den letzten 20 Jahren. Damit habe sich die Kampagne des Parlaments („Diesmal wähl’ ich“) ausgezahlt, freute sich Parlamentssprecher Jaume Duch Guillot.
Dies sei eine gute Nachricht für die europäische Demokratie, erklärten Politiker aller Parteien. „Die EU-Demokratie lebt“, sagte EVP-Spitzenkandidat Manfred Weber. Die hohe Beteiligung sei ein „Signal für den Wandel“, erklärte sein Rivale Frans Timmermans von der S&D.
Italienische Lega gibt den Ton bei den Rechten an
Die schlechte Nachricht ist, dass die Rechtspopulisten und Nationalisten trotz massiver Warnungen der proeuropäischen Parteien erneut zugelegt haben. In Italien und Belgien führt kein Weg mehr an ihnen vorbei. In Frankreich liegen die Rechten sogar vor der Regierungspartei LREM von Präsident Emmanuel Macron.
Nationalisten-Führerin Marine Le Pen kam auf rund 24 Prozent der Stimmen, Macrons Bewegung nur auf 22 Prozent. Nun peilt Le Pen eine neue Allianz mit der italienischen Lega, der deutschen AfD und anderen Rechtsparteien an.
Die Lega dürfte dabei den Ton angeben – sie kam nach Schätzungen auf 32 Prozent. Insgesamt dürften die Rechtspopulisten und Nationalisten im neuen Europaparlament 58 Sitze erobern. Bisher gehörten der Fraktion Europa der Nationen und der Freiheit (ENF) nur 36 Mitglieder an.
Den größten Zuwachs erzielen allerdings die Liberalen. Sie dürften von 67 auf 107 Sitze anwachsen und könnten somit das Zünglein an der Waage spielen, wenn es um die Wahl des nächsten EU-Kommissionspräsidenten geht.
Ein gewichtiges Wort wollen aber auch die Grünen mitreden. Ihre Fraktion hätte laut der Projektion nun 70 Sitze – 20 mehr als zu Beginn der Wahlperiode 2014. „Diese Wahl ist ein gesamteuropäisches Signal für mehr Klimaschutz“, jubelte Keller. „Das Ergebnis verstehen wir als Auftrag, bei diesem Thema nun endlich für Handlungen zu sorgen.“ Ihr grüner Parlamentskollege Sven Giegold sprach sogar von einem „Sunday for Future“.
Schwierige Koalitionsverhandlungen
Demgegenüber herrschte bei den Sozialdemokraten der Katzenjammer. Das Wahlergebnis sei eine „tiefe Enttäuschung“, sagte der SPD-Politiker Udo Bullmann. „Das Klima-Thema hat alles beherrscht, und das läuft nun mal unter dem grünen Label.“ Vor allem junge Menschen hätten für die Öko-Partei gestimmt und die Genossen links liegen lassen.
Im Europaparlament bereitet man sich nun auf ungewöhnlich schwierige Koalitionsverhandlungen vor. Dabei könnten auch die Spitzenkandidaten Federn lassen. „Ich kann heute keinen Sieg feiern“, räumte der CSU-Politiker Weber ein. Dennoch habe die EVP, in der CDU und CSU den Ton angeben, nun ein Anrecht „zu führen“.
Weber ist jedoch nicht der einzige, der einen Führungsanspruch erhebt. Die ist Lage völlig anders als bei der letzten Europawahl vor fünf Jahren. Damals reichten die Sozialdemokraten dem Wahlgewinner Jean-Claude Juncker von der EVP sofort die Hand; er wurde dann Kommissionschef.
Diesmal zeichnet sich eine schwierige Verhandlung zwischen den Parteien und ihren Spitzenkandidaten ab. Entschieden wird der Streit aber nicht mehr nicht von den Wählern, sondern von den Staats- und Regierungschefs. Sie wollen sich am Dienstag zu einem Sondergipfel in Brüssel treffen, um über das Ergebnis der Europawahl zu beraten.
Leser*innenkommentare
vjr
Liebe taz, es stimmt nicht, dass: "..426 Millionen Wahlberechtigten haben.."
Etwa die HÄLFTE der 426 Millionen Wahlberechtigten hat..
luzi
Moderator*in
@vjr Vielen Dank für den Hinweis! Wir haben es geändert.
Franz Georg
"[Die Staats- und Regierungschefs] wollen sich am Dienstag zu einem Sondergipfel in Brüssel treffen, um über das Ergebnis der Europawahl zu beraten."
Das heißt nicht gutes :-(
vjr
@Franz Georg Ja, dieses Geschacher geht weiter. Leider.
91867 (Profil gelöscht)
Gast
Teil 2:
Grüne: Mittlerweile Partei der Gutverdiener (zeigen Wähleranalysen), die aus meiner Sicht vollkommen krude Ideen haben und sich auf dem momentanen „Klima-Veggie-Gedöns“-Hype ausruhen
AFD: haben zu Recht den Finger in die Wunde der völlig kopf- und konzeptlosen Migrationspolitik gelegt, ansonsten sind die mir zu inhaltsschwach und präsentieren, wenn überhaupt, alten Wein in neuen Schläuchen
Linke: Sammelbecken für alle möglichen Leute und ohne Menschen und Vordenker wie Lafontaine, Gysi, Wagenknecht, die (halbwegs) wirtschaftliche Vernunft mit sozialer Idee versuchen zusammen zu bringen, einfach nur obsolet
FDP: schlicht und ergreifend anachronistisch. Wählbar allenfalls für reiche Erben, (Zahn)Ärzte und gut situierte Wirtschaftsanwälte
Und da sitze ich nun bei jeder Wahl aufs Neue und sage mir: ich möchte eigentlich NIEMANDEN von denen wählen, weil ich denen gar nicht mehr meine Legitimation geben möchte. Wo sind Politiker, die geerdet sind, gearbeitet haben, etwas außerhalb der Politik aus eigener Kraft geschafft haben? Und das betrifft alle Parteien.
Franz Georg
@91867 (Profil gelöscht) Mal ganz ehrlich ... Sie haben sich nicht ernsthaft nach einer wählbaren Partei umgesehen.
Wenn ich, aufgrund Ihrer Aussagen eine Einschätzung abgeben müsste, dann wäre mir zB. die PARTEI eingefallen, die recht gut passen könnte ... besser als ich kann das natürlich der Wahl-O-Mat einschätzen.
91867 (Profil gelöscht)
Gast
Ich möchte gerne aus meiner Sicht den Zustand unserer Parteienlandschaft und Politik beschreiben.
Vorweg zu meiner Person: ich bin Jahrgang '70 habe mein Leben lang (sehr hart) arbeiten müssen. Erbe erhielt ich keins, da auch meine Eltern hart arbeiten mussten, aber Ihrerseits kein Erbe hatten und 3 Kinder großziehen mussten unter schwierigen Bedingungen. Ich habe im Wirtschaftsbereich studiert, neben meinem Studium arbeiten müssen, und bin seit ich 25 Jahre alt war Vollzeit-berufstätig. Erst 7 Jahre als Angestellter, seither als Selbstständiger (selbst aufgebaut). Ich weiss wie sich ein 14 Stunden Arbeitstag anfühlt und engagiere mich seit vielen Jahren sozial (u.a. für sozial schwache Kinder). In kurzen Worten einige meiner Grundsatzpositionen:
* ich möchte in einer Gesellschaft leben, in der man etwas aus eigener Kraft schaffen und erreichen kann
* ich möchte in einer Gesellschaft leben, in der die Starken die Schwachen unterstützen, ohne dass sich die Starken dabei gönnerhaft fühlen dürfen und ohne dass die Schwachen sich auf ewig auf Hilfe ausruhen (Stichwort Hilfe zur Selbsthilfe)
* Umwelterhaltung ist selbstverständlich (in unser aller Eigeninteresse übrigens!) wichtig, wird aber nicht funktionieren, wenn man die Themen hinter den Themen nicht angeht (Stichwort Überbevölkerung der Erde, Menschen bildungstechnisch, religiös und politisch dumm halten, asymetrischer/unfairer Welthandel usw.)
* ich bin gegen naive sozialistisch-kommunistische Gesellschaftsideen, allerdings auch gegen einen rücksichtslosen Finanzmarktkapitalismus u.ä.
Nun dazu, wie ich unsere Parteienlandschaft (in kurzen Worten) wahrnehme:
CDU/CSU: Seniorenpartei, die die Zukunftsgestaltung längst aufgegeben hat. 2015 war eine Riesendummheit, da es den rechten Rand stark gemacht hat
SPD: Agenda-Politik u.a. hat sie m.E. für jeden Arbeitenden unwählbar gemacht
Teil 2 folgt
tomás zerolo
Ach, Herr Bullmann.
"Das Wahlergebnis sei eine 'tiefe Enttäuschung', sagte der SPD-Politiker Udo Bullmann"
Was Sie nicht sagen.
" 'Das Klima-Thema hat alles beherrscht, und das läuft nun mal unter dem grünen Label' "
Unter welchem denn sonst? Wer hat über Jahrzehnte die Kohle (mit-)subventioniert?
"Vor allem junge Menschen hätten für die Öko-Partei gestimmt und die Genossen links liegen lassen"
Links?
Herr Bullmann: solange Ihre Partei die Leichen im Keller weitermodern lässt, so lange brauchen Sie sich nicht zu wundern, dass vernünftige Leute vom Gestank abgeschreckt werden.
Entsorgen Sie den Seeheimer Kreis. Entschuldigen Sie sich bei den Agenda 2010-Opfern (zur Erinnerung: das schmerzhafteste war, dass ihnen die Würde genommen wurde, und wird!). Hören Sie mehr auf Ihren Kühnert. Dann -- und nur dann -- können Sie behaupten, Sie lägen "links".