Nach dem Hochhausbrand in London: Grenfell Tower, sechs Monate später
Besetzung, Selbsthilfe und Forderungen an die Politik. Die Überlebenden des Londoner Hochhausbrands wollen keine Opfer mehr sein.
Ein Steinwurf entfernt ziehen sich die Betonarkaden des Westway, die in Londons Innenstadt führende gigantische Stadtautobahn, kilometerweit durch den Norden von Kensington, von Gospel Oak bis nach Latimer Road, wo der Grenfell Tower steht, jenes Hochhaus, das inzwischen noch berühmter ist, weil es vor genau sechs Monaten niederbrannte – eine der schlimmsten Brandkatastrophen der britischen Geschichte. Jetzt, sechs Monate später, verdeckt ein Gerüst mit Deckplanen etwa ein Viertel des angekohlten Turms und soll ihn bald komplett umhüllen.
Hailstones berichtet von einer Zeit des Umbruchs. Im Inferno starben nicht nur 71 Menschen. Es markiert auch, so hofft er, das Ende eines jahrzehntelangen Prozesses von Marginalisierung, Regeneration und Ausgrenzung, von Dominanz durch Machtinteressen, ja von „sozialer und ethnischer Säuberung des Viertels“, wie er es ausdrückt.
„Eigentlich erwartete ich mir weder vor dem Brand noch danach irgendwelche Veränderungen“, kommentiert er die vielen Versprechen der zuständigen Gemeindebehörde Kensington and Chelsea. „Im ersten Monat nach dem Unglück herrschte hier absolute Hilflosigkeit. Auf sich allein gestellt, hat sich der Geist der Selbständigkeit behauptet.“
Das Dorf
Dann verrät der afrikanisch-karibische Gemeinschaftsaktivist etwa, was den meisten bisher verschwiegen wurde. Als die Spenden, Pakete und Decken für die Überlebenden des Feuers hier ankamen, besaß Hailstones zufällig den Schlüssel zu einem Raum unter den Arkaden der Stadtautobahn, gleich neben der Portobello Road. Den Schlüssel zum Raum der Stiftung „Westway Trust“, die die Arkaden verwaltet, hatte er, weil er ein Jubiläumsevent zu Marleys Album „Exodus“ organisieren wollte. Hailstones bat die Gemeinschaftskoordinatorin der Stiftung um Erlaubnis, den Raum nun als Depot benutzen zu könne. Sie stimmte zu und erteilte eine Dreimonatslizenz. Hilfsgüter stapelten sich schnell hoch bis unter die Decke. Der Raum wurde bald als „The Village“ bezeichnet: das Dorf – eine Art privates, improvisiertes Gemeinschaftszentrum für die Überlebenden des Grenfell Tower.
Sechs Monate später ist der Raum leerer geworden. Sofas stehen verteilt in geselliger Formation, Wandgemälde und Bilder vermitteln eine afrikanisch geprägte Atmosphäre, ein Schlagzeug steht im Hintergrund. Die Dreimonatslizenz ist längst abgelaufen. Aber Hailstones hofft, bleiben zu können.
Hier, im lukrativsten Teil der Portobello Road im Westlondoner Edelviertel Notting Hill, weltberühmt für seinen Karneval, hat der West Way Trust eigentlich große Umbaupläne. „Solange wir hier sind, halten wir diese Pläne auf“, glaubt der Aktivist. Hailstones war seit dem Inferno bei allen Gesprächen mit der Gemeindebehörde dabei. Die Koordinatorin, die ihm einst den Schlüssel gab, wurde inzwischen gefeuert. Als sie sich gemeinsam mit einer anderen entlassenen Angestellten dagegen wehrte, trat plötzlich im Oktober die dafür verantwortliche Geschäftsführerin zurück.
Verschwundene Freiräume
Der Westway Trust, anfangs North Kensington Amenity Trust, war einst das hart errungene Ergebnis einer langen Kampagne der Bewohner Nordkensingtons gegen Pläne, unter der Autobahn Parkplätze statt Gemeinschaftsräume zu schaffen. „Die Stiftung wurde aber bald ein Deckmantel“, so Hailstones. „Anfangs waren sogar die Hälfte des Vorstands Stadtratsabgeordnete, von denen viele weit weg lebten.“
Aus seiner Sicht agierte der Trust über Jahre hinweg rassistisch. Immer weniger Raum wurde für kulturelle und soziale Aktivitäten zur Verfügung gestellt, und noch weniger für die afrikanisch-karibischen AnwohnerInnen. Die kommerzielle Nutzung bekam Vorrang. In Notting Hill waren in den 1950er Jahren die ersten schwarzen Arbeitsmigranten aus der Karibik gelandet – nun ließ man ihnen nicht einmal mehr hier Freiräume, unter der Betonbrücke. Ein gemeinschaftlicher Steel-Drum-Workshop, „Bay 20“, wurde in den 1990er Jahren geräumt – zugunsten eines mit Stiftungsmitteln bezahlten Metallzauns mit Stacheldraht und einer obskuren Kunstinstallation mit blauen Steinen, nutzlos und leer.
Auch andere Zonen, beispielsweise für die bekannte Steelband Ebony, gingen verloren. Anscheinend war dem Westway Trust der alljährliche Notting Hill Karneval, gewachsen aus dem Widerstand gegen den Rassismus der 1950er Jahre als Ausdruck des Respekts für afrikanisch-karibische Menschen und Kultur, relativ egal. Der Maxilla-Kindergarten unter dem Westway musste vor drei Jahren dichtmachen, während für die an die Portobello Road grenzenden Arkaden ein Rieseneinkaufszentrum geplant ist.
Seit drei Jahren ist Hailstones nun Vorsitzender von Westway23, einer Gemeinschaftsgruppe, die den Westway Trust zur Rechenschaft ziehen möchte. Auch nach Grenfell gehen die Probleme weiter. Seit Neuestem will die Stiftung einem Vorschlag der BBC nachkommen, ausgerechnet auf dem einstigen Gelände von „Bay 20“ Raum für einen Boxklub zu schaffen, der einst im Grenfell Tower trainierte. Die Empörung ist riesengroß, besonders bei den afrikanisch-karibischen AnwohnerInnen.
Die Wiedereinnahme
Die Geschichte des Westway und wie die Gemeinschaft von den Entscheidungsträgern regelrecht ausgelaugt wurde – das hat viele Parallelen zum Management der Sozialbauten wie Grenfell Tower, sagt die Aktivistin Eve Wedderburn. Sie hat kurz nach dem Inferno einen anderen langen Kampf gewonnen: die Rettung der einzigen Stadtbücherei bei Ladbroke Grove.
Ähnlich wie beim Entstehen der Stiftung Westway Trust wurde auch bei den Sozialbauten die Forderung auf gemeinschaftliche Selbstverwaltung im Ergebnis verzerrt – es entstand für die Sozialwohnkomplexe das „unabhängige“ Verwaltungsorgan KCTMO (Kensington and Chelsea Tenant Management Organisation). Auch hier dominierten Gemeineräte statt Betroffene. Wenn Bewohner von Grenfell Tower sich über den Brandschutz Sorgen machten, drohte KCTMO mit juristischen Schritten, statt darauf einzugehen. Mit dem Feuer geriet KCMTO in Verruf, und ihre Zuständigkeit wurde jetzt aufgehoben.
Seit drei Wochen halten Anwohner von Grenfell Tower, darunter Niles Hailstones und Eve Wedderburn, nun unter den Arkaden einen großen Raum besetzt. Auch dafür gibt es historische Vorbilder – die „Freie Republik Frestonia“, die vor 40 Jahren in abrissbedrohten Straßen die Unabhängigkeit ausrief. Doch „Besetzung“ ist nicht das Wort, welches Hailstones heute benutzt: „Wir haben diesen Ort wiedereingenommen“, sagt er und spricht von einer Revolution der Menschen. In mit Spenden renovierten Räumen sind Übungsräume, Therapieräume, Küchen im feinsten Design entstanden, kreiert von der Gemeinschaft.
Die Leute nennen all das „The City“, mit Bezug auf das „Village“, den Vorgängerraum, der direkt nach dem Feuer entstanden war. Am Donnerstag will man die „City“ für die Allgemeinheit öffnen – nach dem Gedenkgottesdienst am Morgen und nach dem Abschluss des monatlichen Grenfell-Schweigemarsches rund um den Tower, der immer vor der „Wand der Wahrheit“ endet, einem offenen Sammelpunkt voller Wandmalereien unter den Arkaden nicht weit vom Tower.
Räume schaffen
Hailstones hat Wohnungsstadrat Kim Taylor-Smith zu einer Führung eingeladen. „Er kam und staunte“, erinnert sich Hailstones. Taylor-Smith stoppte zumindest für jetzt die Räumungsklage. Für die Gemeinschaft ist diese Wiedereinnahme ein Prestigeprojekt. Sie will beweisen, dass sie derartige Räume nicht nur benötigt, sondern auch selbst schaffen und gestalten kann.
Es gibt auch ein paar Gegenstimmen zu dem „City“-Vorhaben. Ein Künstler namens „Livingstone“, der die Wall of Truth betreut und teilweise gemalt hat, fühlt sich von Hailstones ausgeschlossen. „Ich hätte diesen Raum bekommen sollen, denn ich war hier von Anfang an“, schimpft er bei der Frage, was er von der City halte.
Sophie Lodge, die Künstlerin, die das Grenfell-Inferno mit ihrer Herzkampagne „Comeunity“ – ein Wortspiel auf den Begriff „Community“, zusammengesetzt aus „come“ und „unity“ – in einer für die Überlebenden fassbaren Weise zu bewältigen versucht hatte, sagt, der Streit sei nicht mehr als die Artikulation zweier starker Stimmen, die eigentlich Ähnliches wollen. Sie selbst hat in den letzten zwei Monaten mit Kindern in allen lokalen Schulen gearbeitet. Sie steht jetzt vor Ladbroke Grove beim Aufhängen einer riesigen Plane an der U-Bahn-Brücke. Auf ihr steht der Satz eines Jungen: „Wir sind besonders, weil wir die Zukunft Ladbroke Groves sind.“
Mitspracherecht und Menschenwürde
Im öffentlichen Untersuchungsausschuss zu Grenfell, der nach monatelanger Sammlung von Unterlagen gerade erst diese Woche richtig zu tagen begonnen hat, werden derweil grundsätzliche Argumente ausgetauscht. Es geht um Mitspracherecht, Respekt für Menschenvielfalt, Menschenwürde. Die rechtlichen Vertreter der Opfer und Geschädigten fordern mehr Zugang und Mitbestimmung. Statt eines einzelnen Richters solle ein Gremium, in dem die Betroffenen vertrete sind, den Ausschuss leiten, findet auch Chris Imafidon, einer der Überlebenden des Hochhausbrands. „Was passiert, wenn der Richter krank ist oder wenn er stirbt? Dann geht es nicht weiter!“ Diesbezüglich erklärte am Wochenende überraschend die britische Gleichberechtigungs- und Menschenrechtsbehörde, dass sie eine eigene Untersuchung durchführen werde.
Immerhin hat sich einiges im Bauwesen getan. Nach Aussagen des Baurechtsexperten Gerard McLean wurden bereits eine Woche nach dem Inferno die Bauvorschriften klargestellt. „Bei Gebäuden über 18 Meter Höhe dürfen Außenmaterialien jetzt nur noch nur ‚begrenzt brennbar‘ sein“, erläutert er. „Das ist ein relativ hoher Standard, jedoch nicht der allerhöchste, denn man kann auch vollkommen nicht brennbare Materialien verwenden.“ Nahezu alle öffentlichen Eigentümer haben Außenverkleidungen geringeren Standards von Gebäuden entfernen lassen, auch Wohnhäuser im Privatbesitz haben fragwürdige Verdeckungen und Außenfassaden abbauen lassen.
Doch viele Belange der Überlebenden und Anwohner von Grenfell Tower bleiben derweil ungelöst. Vor allem haben sechs Monate nach dem Brand nur rund ein Fünftel der Opferfamilien und Familien aus der unmittelbaren Nähe zu Grenfel Tower ein neues Zuhause gefunden, sagt Judy Bolton von der Campagne Justice4Grenfell, die im Tower Freunde und Verwandte verloren hat und nicht weit entfernt lebt.
Leben im Hotelzimmer
Auf die Frage, wie es ihm gehe, bricht Professor Chris Imafidon, der im 14. Stock des Grenfell Tower das Feuer überlebt hat, in zynisches Gelächter aus. „Ich lebe nach wie vor in einem kleinen Hotelzimmer“, sagt er. „Ich brauche keinen Gottesdienst, sondern die Schlüssel zu einer Wohnung. Es ist alles ein Witz. Genug mit dem Geschwätz! Wir brauchen keinen Dienst mehr an den Toten, sie sind alle beerdigt. Sondern Dienst an den Lebenden.“
Elizabeth Campbell, die Chefin des Gemeinderats von Kensingtons und Chelsea, versicherte zwar, man arbeite daran, „bis Weihnachten für alle Wohnungen zu haben“, und man kaufe im Durchschnitt zwei Wohnungen pro Tag in der Gegend. Die Verzögerung liege nicht zuletzt an sich verändernden Umständen. Beispielsweise bräuchte man nun fast doppelt so viele Wohnungen wie zuerst angenommen: über 300 Wohneinheiten, da einige Familien in übervollen Wohnungen gelebt hätten oder andere wegen des Infernos mit Familienangehörigen oder Freunden zusammenziehen wollten.
Doch angeblich gibt es in Kensington über 1.000 leere Sozialwohnungen. „Keiner versteht, weshalb diese nicht im Angebot stehen“, sagt Judy Bolton von Justice4Grenfell. „Unter den etwa 1.000 Obdachlosen des Infernos gibt es 40 Kinder. Sie dürfen nach britischem Recht nicht länger als sechs Wochen in temporären Unterkünften untergebracht sein. Hier liegen die Verantwortlichen schon monatelang im Rechtsbruch!“ Auf der anderen Seite könnten Einzelpersonen nicht in bereitstehende leere Wohnungen einziehen, da sie die niedrigste Priorität haben, auch wenn Familien mit höherer Priorität nicht in kleine Einzimmerwohnungen passen.
Protest statt Gedenken
Im November hatte die britische Regierung immerhin 28 Millionen Pfund (31 Millionen Euro) zur Hilfe für die Betroffenen bereitgestellt, zusätzlich zu den 5 Millionen, die die Regierung direkt nach dem Inferno versprochen hatte. Langsam kommen auch Dienstleistungen wie Therapie bei den Bedürftigen an. Judy Bolton lässt sich inzwischen psychologisch beraten, es hat sie alles mitgenommen. Es fehlen vor allem aber noch Dienste für Kinder, und nicht nur für direkt Betroffene, sondern auch für diejenigen Kinder, die im Feuer Freunde verloren haben, sagt sie. Ein anderes Problem sei gewesen, dass es bis vor Kurzem keinen mobilen Dienst gab, der die Menschen direkt in den Hotels aufsuchte.
Chris Imafidon fühlt sich müde und ausgelaugt. Man riet ihm, sich auszuruhen, aber er kann es nicht, „da die Gemeinderegierung behauptet, dass ich mich zu sehr aufrege, und sie schieben Leute wie mich zur Seite“. Er hat vor, den Gedenkgottesdienst zu boykottieren und sich vor der Kathedrale auszusprechen. „Erst braucht man ein Dach über dem Kopf, das man ein Zuhause nennen kann. Dann kann man sich um Therapie kümmern. Wenn man sie dann noch braucht.“
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