Nach dem Berliner Wahlchaos: Karlsruhe hat die Wahl
Das Verfassungsgericht muss über Klagen zum Wahlchaos bei Abgeordnetenhaus- und Bundestagswahl entscheiden. Es dürfte kein einheitliches Ergebnis geben.
Die Grundfrage ist in die beiden Verfahren die gleiche: Muss die Wahl komplett wiederholt werden oder genügt eine Teilwiederholung in besonders betroffenen Stimmbezirken? Auf den ersten Blick könnte man daher meinen, beide Verfahren müssten auch mit dem gleichen Ergebnis enden. Denn in beiden Fällen geht es um das gleiche Wahlchaos in den gleichen Wahllokalen am gleichen Tag, dem 26. September 2021: Stimmzettel fehlten oder wurden unzulässig kopiert, Wahllokale mussten zeitweise geschlossen werden oder blieben unzulässig lange offen.
Dennoch ist sehr wahrscheinlich, dass am Ende unterschiedliche Ergebnisse stehen: komplette Wiederholung der Abgeordnetenhauswahl, aber keine Wiederholung in allen Berliner Bundestagswahlkreisen. Dies liegt nicht nur an unterschiedlichen Verfahren der Wahlprüfung, sondern auch am unterschiedlichen Charakter der Wahlen.
Die Wahlprüfung zur Abgeordnetenhauswahl findet nach Berliner Recht einstufig statt. Über die Einsprüche entschied der Berliner Verfassungsgerichtshof: Am 16. November 2022 hat das Verfassungsgericht angeordnet, dass die gesamte Abgeordnetenhauswahl wiederholt werden muss. Nur so sei „angesichts der Vielzahl und Schwere der Wahlfehler“ wieder ein verfassungsgemäßer Zustand herzustellen. Aufgrund des Berliner Wahlrechts muss binnen 90 Tagen neu gewählt werden, außerdem müssen auch die Wahlen zu allen zwölf Bezirksverordnetenversammlungen (BVV) wiederholt werden. Gemeinsamer Wahltermin ist der 12. Februar.
Gegen diese Entscheidung des Landesverfassungsgerichts sind nach Berliner Recht keine Rechtsmittel möglich. Dennoch wurden dagegen beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe fünf Verfassungsbeschwerden nach Bundesrecht erhoben. Die bekannteste Beschwerde wird von 43 Personen getragen, unter denen 8 gewählte Mitglieder des Abgeordnetenhauses und weitere gewählte Mitglieder aus BVVen sind. Die meisten von ihnen wollen anonym bleiben.
Offen aufgetreten sind allerdings zum Beispiel der frühere Finanzsenator Matthias Kollatz (SPD), der im Stadtteil Steglitz direkt gewählt wurde, und der Grüne Bertram von Boxberg, der in der BVV Tempelhof-Schöneberg sitzt. Die Kläger machen vor allem geltend, dass es im September 2021 in ihren Wahlgebieten – wie übrigens in den meisten Berliner Wahlgebieten – kaum Wahlfehler gegeben hat. Es sei daher nicht vertretbar, so die Argumentation, dass die Wahl in ganz Berlin wiederholt werden muss, also auch in Wahlkreisen mit unproblematischem Wahlverlauf.
Die Verfassungsbeschwerde hat gute Argumente, aber keine Aussicht auf Erfolg. Das Bundesverfassungsgericht stellt in ständiger Rechtsprechung auf die „Verfassungsautonomie“ der Bundesländer ab, zuletzt im Dezember 2021 in einem Fall aus Thüringen. Die Länder gewähren demnach den Schutz des Wahlrechts für ihre Wahlen „grundsätzlich allein und abschließend“. Soweit es um die Einhaltung der Wahlgrundsätze bei Wahlen auf Landesebene geht, gebe es deshalb keine Möglichkeit, das Bundesverfassungsgericht anzurufen.
Der Wahlkampf geht weiter
Dementsprechend hat Karlsruhe auch die auf vollen Touren laufenden Berliner Wahlvorbereitungen nicht gestoppt, obwohl ein entsprechender Eilantrag der Kläger:innen vorlag. Es wird also höchstwahrscheinlich bei der Wahlwiederholung am 12. Februar bleiben.
Die Wahlprüfung zur Bundestagswahl verläuft anders. Hier entscheidet zunächst der Bundestag über Einsprüche. Zu den Vorgängen in Berlin gingen insgesamt 1.959 Einsprüche ein, die aber überwiegend identisch waren. Der Bundestag entschied daraufhin am 10. November mit den Stimmen der Ampelkoalition, dass in 431 von 2.256 Berliner Stimmbezirken, sprich Wahllokalen, die Bundestagswahl wiederholt werden muss.
Gegen diese Entscheidung kann das Bundesverfassungsgericht mit der Wahlprüfungsbeschwerde angerufen werden. Bisher sind erst 8 entsprechende Beschwerden eingegangen. Die Frist läuft aber noch bis zum 10. Januar. Es fehlen zudem noch die bereits angekündigten Beschwerden der Bundestagsfraktionen von CDU/CSU und AfD.
Das Bundesverfassungsgericht wird hier eine volle eigene Prüfung der Vorwürfe vornehmen. Es prüft also nicht nur, ob die Entscheidung des Bundestags vertretbar war. Dabei geht es in drei Schritten um die Fragen: Welche Wahlfehler lagen vor? Welche Fehler waren mandatsrelevant? Was sind die Rechtsfolgen?
Eine kurzfristige Entscheidung ist unwahrscheinlich
Es spricht viel dafür, dass das Bundesverfassungsgericht hierzu in einigen Monaten eine mündliche Verhandlung durchführt. Es wird also keine kurzfristige Entscheidung geben. Eine Wiederholung von Teilen der Bundestagswahl am 12. Februar, parallel zur Wiederholung der Abgeordnetenhauswahl, ist damit schon deshalb nicht möglich, bisher aber auch nicht geplant.
Zum Ausgang dieser Prüfung kann bereits jetzt prognostiziert werden: Eine Komplettwiederholung der Berliner Bundestagswahl wird es nicht geben. Es geht lediglich um die Frage, ob es bei der Wiederholung in 431 Wahllokalen bleibt oder ob noch einige hundert Wahllokale mehr dazukommen. Auch die CDU/CSU-Fraktion im Bundestag hat keine Wiederholung der Wahl in allen bislang zwölf Berliner Wahlkreisen beantragt, sondern nur in sechs von zwölf Wahlkreisen. In weiteren zwei Wahlkreisen soll laut CDU/CSU die Erststimmenwahl wiederholt werden und in weiteren Stimmbezirken die Zweitstimmmenwahl.
Das Berliner Wahlchaos wird also bei der Abgeordnetenhauswahl deutlich größere Folgen haben als bei der Bundestagswahl. Das ist aber auch naheliegend. Denn das Argument des Berliner Verfassungsgerichtshofs, nur eine komplette Wiederholung der Wahl könne die Akzeptanz des Wahlvorgangs wiederherstellen, war für die Bundestagswahl von vornherein irrelevant. Schließlich stand eine Wiederholung der Bundestagswahl in ganz Deutschland nie zur Debatte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles