Nach Anschlag und Übergriffen: Berliner Bilderstreit
Videoüberwachung im U-Bahn-Netz, aber kein Bild vom Terroranschlag am Breitscheidplatz: Ist das logisch? Der Berliner Senat gerät unter Druck.
Am frühen Sonntagmorgen hatten sieben Jugendliche in einem Berliner U-Bahnhof versucht, einen Obdachlosen anzuzünden. Aufmerksame Passanten löschten die Zeitungen, mit denen sich der Mann wärmte, und riefen die Polizei. Diese veröffentlichte am Montag die Bilder der Videokameras vom U-Bahnhof. Noch am Montagabend stellten sich sechs der Tatverdächtigen, ein weiterer ging Zielfahndern ins Netz. Gegen sie wird wegen versuchtem Mord ermittelt.
Laut Polizeiangaben handelt es sich um Geflüchtete im Alter von 15 bis 21 Jahren, die zum Teil unbegleitet nach Deutschland kamen. Sechs von ihnen seien Syrer, einer soll gebürtiger Libyer ohne bekannte Staatsbürgerschaft sein.
Die jüngste Tat war bereits die zweite in Folge, die durch eine Fahndung mit Videobildern aufgeklärt werden konnte. In dem anderen Fall konnte ein 27-Jähriger mit Hilfe von Videobildern überführt werden, der im Oktober eine Frau ohne jede Warnung eine U-Bahn-Treppe hinunter gestoßen hatte.
Einführung würde mehrere Jahre dauern
In Berlin werden U-Bahnhöfe und -Züge – anders als öffentliche Plätze – flächendeckend überwacht. Das wollte der rot-schwarze Vorgängersenat ändern und die Videoüberwachung ausdehnen. Im Koalitionsvertrag der neuen rot-rot-grünen Regierung, der Anfang Dezember unterzeichnet wurde, ist davon aber keine Rede mehr. Statt einer Überwachung auf Plätzen wie dem Alexanderplatz im Stadtzentrum soll dort nun eine mobile Polizeiwache installiert werden.
„Die Vorstellung, dass wir mal eben Kameras an öffentlichen Plätzen installieren, und die Polizei wertet ständig Livebilder aus, ist ein Hirngespinst“, sagt Benedikt Lux, innenpolitischer Sprecher der Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus. Die Einführung einer Videoüberwachung an öffentlichen Plätzen würde mehrere Jahre dauern.
Genau solche Argumente verärgern Innenminister de Maizière. Das Bundeskabinett habe soeben „ein Gesetz beschlossen, das die Videoüberwachung an öffentlichen Plätzen erleichtert und damit einen wichtigen Beitrag zur Kriminalitätsbekämpfung leisten wird“, sagte der CDU-Mann.
In anderen Bundesländern ist flächendeckende Videoüberwachung alltäglich. In Bayern sollen schon vor vier Jahren mehr als 17.000 Kameras an öffentlichen Plätzen installiert gewesen sein. In Leipzig stehen die Kameras nicht nur am Hauptbahnhof, sondern auch im Szeneviertel Connewitz, wo es immer mal wieder zu Krawallen kommt. In der Regel speichern die Kameras die Aufnahmen 48 Stunden lang, dann werden die Speichermedien überschrieben. In Berlin gibt es nur am Holocaustmahnmal und auf acht ausgesuchten Bahnhöfen Überwachungskameras.
In der Hauptstadt will man sich von der CDU nicht unter Druck setzen lassen. Nach dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt sollten erst einmal die Ermittlungen zu Ende geführt werden, sagte ein Sprecher von Innensenator Andreas Geisel (SPD). „Dann können wir in die politische Diskussion einsteigen. Jetzt halten wir das für verfrüht.“ Zugleich betonte der Sprecher, das Thema müsse angesichts der veränderten Lage neu bewertet werden.
Damit steht die Berliner SPD ziemlich alleine da. Denn auch aus der Bundes-SPD werden die Forderungen nach einer Ausweitung der Videoüberwachung lauter. „Ich kann dem Berliner Senat nur empfehlen, die Videoüberwachung auf alle öffentlichen Plätze auszuweiten“, sagte Burkhard Lischka, innenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. Zwar räumte Lischka ein, die Videoüberwachung sei in der Regel kein geeignetes Instrument, um Anschläge zu verhindern. Sie könne aber bei der Tataufklärung helfen. Tatsächlich fehlten bei der Fahndung nach dem Mörder vom Breitscheidplatz zunächst jegliche Fahndungsbilder.
Der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, nannte die Haltung des rot-rot-grünen Senats „unverantwortlich“. Der Innensenat bitte die BürgerInnen um Handyvideos vom Tatabend am Breitscheidplatz, wolle aber selbst nichts überwachen. Wendt findet das „absurd“.
Kritisch gegenüber einer Ausweitung der Videoüberwachung äußerte sich Konstantin von Notz, netzpolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag. Er warnte vor „postfaktischen Debatten“ über angeblich mehr Sicherheit durch flächendeckende Videoüberwachung. Die raschen Fahndungserfolge in den beiden Berliner U-Bahn-Fällen zeige, „dass das existierende System gut funktioniert“. Er lehnte Videoüberwachung zwar nicht grundsätzlich ab, forderte aber eine „personelle und materielle Verstärkung“ der Polizei vor Ort. „Im Gegensatz zu einer Kamera, die ein Ereignis nur aufzeichnet, kann ein Polizeibeamter konkret helfen“, sagt von Notz.
Ähnlich argumentiert Ulla Jelpke, innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag. Sie sagte: „Das gebetsmühlenartige Wiederholen des Mantras, wonach mehr Videoüberwachung zu mehr Sicherheit beitrage, ändert nichts daran, dass sich die Bundesregierung dabei auf keinerlei seriöse wissenschaftliche Grundlagen stützen kann.“ Auf eine aktuelle kleine Anfrage der Linksfraktion erklärte die Bundesregierung, dass zumindest geplante terroristische Anschläge nicht durch Videoüberwachung vereitelt worden seien.
Burkhard Lischka (SPD)
Die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) indes ziehen eine positive Bilanz der Videoüberwachung in Bahnen und Bahnhöfen. Die Zahl der Gewalttaten in Bahnen und Bussen sei von 880 im Jahr 2011 auf 484 in 2015 zurück gegangen, sagte BVG-Sprecherin Petra Reetz. „Es spricht sich herum, dass die Bahnhöfe videoüberwacht sind.“
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