NSU-Terror in Deutschland: 20 Jahre Versagen
Täter fühlen sich so sicher, dass sie als „NSU 2.0“ wieder Todesdrohungen verschicken. Gerade deshalb ist radikale Aufklärung so wichtig.
Es waren neun Schüsse, die nur Fragen hinterließen. Genau vor zwanzig Jahren trafen sie Enver Şimşek, einen Mann, der sich vom Fabrikarbeiter zum Blumengroßhändler hochgearbeitet hatte, einen zweifachen Familienvater. Mit einem Blumenstand hatte der 38-Jährige an einer Nürnberger Ausfallstraße gestanden, zwei Tage später starb er im Krankenhaus.
Wer waren die Täter? Was war das Motiv? Es dauerte elf Jahre, bis es Antworten darauf gab: Die Mörder waren Rechtsterroristen, der Nationalsozialistische Untergrund (NSU). Elf Jahre, in denen dieser Staat versagte. Denn der Mord an Enver Şimşek markierte den Beginn der bis heute schwersten Rechtsterrorserie der Bundesrepublik, neun weitere Tote folgten. Die Polizei verhinderte dies nicht, schloss ein rechtsextremes Motiv weitgehend aus und verdächtigte stattdessen die Opfer. An jedem Tatort wieder neu. Das Versagen aber endete damit nicht.
Denn die Schüsse auf Enver Şimşek hinterlassen Fragen, die bis heute offen sind. Die in den letzten Jahren immer wieder gestellt wurden. Wussten der Verfassungsschutz und seine V-Leute wirklich so wenig über die Mordserie? Gab es wirklich nur das Tätertrio? Wer aber warf dann in Nürnberg das NSU-Bekennnerschreiben per Hand bei einer Zeitungsredaktion ein? Wer wusste, dass Simsek ausnahmsweise gerade an diesem Tag an der Straße stand?
Es ist beschämend, dass solch zentrale Fragen ungeklärt sind. Und es hat Folgen. Er habe das Vertrauen in den Staat verloren, sagte Abdulkerim Şimşek, der Sohn von Enver Şimşek, bei dem Gedenken an seinen Vater. Ein Satz, den auch einige Opfer nach den Anschlägen in Hanau und Halle aussprachen. Ein verheerendes Zeugnis für dieses Land.
Umso mehr, da sich parallel Täter so sicher fühlen, dass sie seit Monaten und wohl mit Zugriff auf Polizeidaten als „NSU 2.0“ wieder Todesdrohungen verschicken. Deshalb ist radikale Aufklärung so wichtig – auch 20 Jahre später. Zu den Netzwerken der Rechtsextremen, zu Verwicklungen des Staates. Damit Täter gefasst werden, damit Betroffene wieder Vertrauen gewinnen. Es ist nie zu spät dafür.
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