NS-Aufarbeitung an Hochschulen: Erst nach 50 Jahren enttarnt
Lange lehrte die SS-Größe Hans-Ernst Schneider an der Technischen Hochschule Aachen. Nur zögerlich stellte man sich dort der Aufarbeitung.
Schwertes wirklicher Name: Hans-Ernst Schneider, SS-Hauptsturmführer, tätig in führender Position in Heinrich Himmlers „Ahnenerbe“, der scheinwissenschaftlichen Forschungsorganisation der Nazis. Schon 1940 gehörte Schneider zum persönlichen Stab des Reichsführers SS. Er arbeitete für dessen berüchtigten Sicherheitsdienst in Den Haag und requirierte an niederländischen Universitäten medizinische Apparate für Menschenversuche und die vielhundertfachen Morde der „Ahnenerbe“-Abteilung im KZ Dachau.
Nach dem Krieg war Schneider angeblich verschollen, dann von seiner Frau Annemarie für tot erklärt worden. Gleichzeitig hatte er sich eine zweite Identität als Hans Schwerte, geboren in Hildesheim, zugelegt. 1947 heiratete er seine eigene Scheinwitwe, adoptierte die leibliche Tochter und startete eine zweite wissenschaftliche Karriere.
Das perfide Doppelleben lief schnell gut an, etwa in Salzburg: Da hatte er als zeitweiliger Leiter der SS-Außenstelle die Bibliothek des jüdischen Schriftstellers Lion Feuchtwanger plündern lassen, jetzt, im Zweitleben, wurde der Literaturforscher Schwerte hier Honorarprofessor. 1965 kam er nach Aachen und avancierte endgültig vom Germanen zum Germanisten. Schwerte war Faust-Fachmann mit, ach, zwei Seelen in der Brust. Er gab sich ausgewiesen fortschrittlich und linksliberal, galt als Grandseigneur des Fachbereichs, absolut integer, bei den Studierenden überaus beliebt.
Wer wusste von Schwertes Doppelleben?
1995 flog die Doppelidentität auf. Die Gerüchte hatten zugenommen. Sowohl Studierende als auch ein niederländisches Fernsehteam recherchierten beim Einwohnermeldeamt Hildesheim, seinem angeblichen Geburtsort. Ergebnis: Hans Schwerte? Unbekannt. Auch die Hochschule hatte dort nachgefragt, aber nur nach einem Schneider, nicht Schwerte. Ob fahrlässig oder absichtlich, weiß man nicht.
Schließlich war der Skandal monströs. In der Hochschule erklärten sich alle tief erschüttert und hintergangen. Wer wusste von Schwertes Doppelleben? Professoren-Namen als Mitwisser fielen, empörte und eitle Dementis folgten, Beschimpfungen, Verleumdungsklagen. Wer hat wen womöglich erpresst, wer ist durch Schweigen höher geklettert im Elfenbeinturm? Die Untersuchungen der RWTH in der Causa Schneiderschwerte verliefen schleppend zwischen Peinlichkeit, Bemühen und Angst um Reputationsverlust.
Die junge Aachener Historikerin Angelina Pils stellt in diesen Tagen ihre Doktorarbeit über sein Leben fertig. Dafür hatte sie im Deutschen Literaturarchiv Marbach auch Einblick in Schneiders Nachlass, vor allem in seine Tagebücher 1942 bis 1999. Es gebe darin, so Pils, „keine Einträge reflektierter Reue. Er hat die NS-Zeit einfach abgetrennt.“ Nach dem letzten Tagebucheintrag in Berlin am 1. 4. 45 „zog er einen Doppelstrich quer über das Papier und begann darunter den nächsten Eintrag zuerst mit Ort und Datum: Lübeck, 3.5.45.“ Schlussstrich gezogen: Symbolischer und aussageloser geht es nicht.
Die über 50 Jahre geführten Tagebücher, so Pils, „lassen an verschiedenen Stellen den Schluss zu, dass sich Schneider/Schwerte über die permanente Gefahr im Klaren war, jederzeit enttarnt werden zu können“. 1993 wurde es ernst. Tagebucheintrag 20. 10.: „Die zweite Zusendung aus Aachen … Jemand muss die Akten Ahnenerbe in die Hand bekommen, abgelichtet haben.“ Als die Maske fiel, sei er „von der Heftigkeit der Reaktionen auf seine Enttarnung überrascht“ gewesen.
„Hans Schwerte“ wird noch immer als Ex-Rektor geführt
Und die Reaktionen der Hochschule selbst? Pils hat festgestellt: „Handfeste Gerüchte über die SS-Vergangenheit von Schwerte gab es bereits in den 80er Jahren, weit vor dessen Enttarnung. Die Ignoranz, mit der viele Professoren darauf reagierten, ist erschreckend.“ Immerhin, zum 150. Hochschuljubiläum in diesem Jahr, gebe es „eine offensive, selbstkritische Auseinandersetzung“ – ihre Arbeit ist Teil davon. Gleichwohl sei das Wissen um den Mann „auch heute noch überraschend wenig präsent“. Die TH-Website bestätigt dies. Dort wird immer noch ein „Hans Schwerte“ als Ex-Rektor geführt.
Geändert hat sich, Beispiel Aachen, bis heute nur punktuell etwas beim Ahnen-Erbe der Nazizeit: Bisweilen wurde ein ehrender Straßenname für nazinahe Ex-Professoren entfernt – meist aufgrund von Protest aus der Bevölkerung. Aber bis heute gibt es im Univiertel einen Eckertweg zur Erinnerung an Geografie-Ordinarius und Dekan Max Eckert-Greiffendorf, der schon 1933 öffentlich zur Wahl Hitlers aufrief. Neben dem „Studentenwohnheim Eckertweg“ hat die Studentenverbindung Wiking ihren Sitz im „Wikingerhaus“, das zufällig 1933 gebaut wurde.
Und Paul Röntgen ist bis heute Ehrensenator. Der Metallurg, Rektor nach dem Krieg, stand für die „Gratwanderung deutschnationaler Funktionseliten und ihre Einbindung in die NS-Politik“, wie TH-Historiker 2005 in einem Gutachten feststellten. Gleich 1933 hielt er bei einem Hochschul-Festakt Propagandareden gegen „die bolschewistischen Horden“. Nach 1945 stellte Röntgen seinen schwer mit dem Vorwurf des Antisemitismus belasteten ehemaligen Rektorenkollegen Alfred Buntru und Otto Gruber Gefälligkeitsgutachten aus, die als Persilschein für weitere wissenschaftliche Taten qualifizierten.
Schneiderschwerte wurde 1995 der Professorentitel aberkannt, Beamtenbezüge und -pension zurückgefordert. Das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse musste er zurückgeben. Die Staatsanwaltschaft leitete noch ein Verfahren wegen Beihilfe zum Mord ein, wegen der Beteiligung an medizinischen Experimenten im KZ Dachau. Das Verfahren wurde eingestellt. Seinen gefälschten Lebenslauf kommentierte S.-S. noch mit den zynischen Worten „Ich habe mich doch selbst entnazifiziert“ und starb 1999 in einem bayerischen Seniorenheim.
„Ein bundesrepublikanisches Biografiemuster“
Während ihrer Dissertation stieß Angelina Pils, wie sie sagt, auf „eine Reihe überraschend ähnlicher Lebenswege“ ehemaliger SS-Größen in die Demokratie, deren Untersuchung „auf ein bundesrepublikanisches Biografiemuster hindeutet“. Eine Tätergruppe, die sich erst „für den Kriegseinsatz der deutschen Geisteswissenschaften“ engagierte und sich dann „flexibel an neue Anforderungen anpasste“.
So wurde, berichtet Pils, aus der „Grenz- und Volksdeutschtumsforschung“ des SS-Hauptsturmführers Hans Schwalm nun eine „Geographie Osteuropas“, die er als Professor in Tübingen schrieb. Und aus „volkskundlichen Feindstudien“ wie bei Karl Heinz Pfeffer ließ sich eine „Soziologie der Entwicklungsländer“ anknüpfen, die er in Münster unter Helmut Schelsky erforschte. Neue Identitäten waren da gar nicht nötig.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen