Mit Smartphones gegen Corona: Welche Folgen die App haben könnte
Der Erfolg der Corona-App wird weniger von ihrer Bedienbarkeit abhängen – sondern davon, was nach einer Quarantänemeldung passiert.
Es gibt diese magische Zahl, die seit April in der Welt ist, sie lautet 60: Wenn rund 60 Prozent der Bevölkerung die App zur Nachverfolgung von Kontakten Sars-CoV-2-positiv getesteter Menschen nutzen und sich an die Quarantäne halten, dann könnte es möglich sein, die Pandemie zu stoppen. Das ist das Ergebnis einer Modellrechnung der Universität Oxford, die seit ihrem Erscheinen gerne zitiert wird – und mittlerweile ebenso gerne kritisiert. Weil sie suggerieren könnte: 60 Prozent, das ist doch eh nicht schaffbar. Zwar nutzen 80 Prozent der über 14-Jährigen hierzulande ein Smartphone. Doch nicht jede:r wird sich die App installieren wollen und ein nicht unerheblicher Teil der Geräte wird schlichtweg zu alt sein, um die App zu unterstützen.
Nun sind in der Oxforder Modellrechnung noch ein paar Prämissen drin: Neben der App-Nutzung gibt es noch andere Schutzmaßnahmen, zum Beispiel umfangreiche Tests und den besonderen Schutz älterer Personen, die deutlich seltener Smartphones nutzen. Aber: Selbst wenn die 60 Prozent nicht erreicht werden – auch eine niedrigere Zahl an Teilnehmenden könnte laut den Autor:innen immerhin dazu beitragen, die Zahl der Infizierten und Todesfälle zu verringern. Und deshalb ist vielleicht eine andere Zahl aus der Modellrechnung viel interessanter: Pro ein bis zwei App-Nutzer:innen werde eine Infektion verhindert, so die Wissenschaftler:innen.
Die auf der App ruhenden Hoffnungen sind also groß. Sie sind es auch deshalb, weil ihre Nutzung im Vergleich zu anderen Maßnahmen – Abstand halten, Beschränkungen des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens – vergleichsweise einfach ist und sich bei weiten Teilen der Bevölkerung in die ohnehin vorhandene Routine integriert: beim Rausgehen Smartphone einstecken.
Die Telekom, selbst an der Entwicklung beteiligt, nutzte die Vorstellung der App gleich zu PR-Zwecken – um dafür zu werben, dass sich Menschen ohne Smartphone in ihren Läden mit simplen Geräten eindecken könnten, inklusive Hilfe bei der Installation der App. Am Tag nach der Veröffentlichung jedenfalls ging die Zahl derer, die sie heruntergeladen hatten, bereits in den einstelligen Millionenbereich.
Wichtige Langstrecke
Doch ob die App ein Erfolg wird im Sinne der Pandemiebekämpfung, hängt nicht nur von dem ab, was war, sondern viel mehr noch von dem, was passieren wird.
Heruntergeladen ist eine App schnell. Bedienbarkeit, optischer Hipness-Faktor oder Energieverbrauch, all das wird vielleicht eine Rolle spielen, wenn es darum geht, die App ein paar Tage laufen zu lassen. Für einen epidemiologischen Nutzen ist aber die Langstrecke viel wichtiger. Also die über Wochen und Monate. Und da ist ein anderer Punkt zentral: Was passiert, wenn die App meldet: „erhöhtes Risiko“, bitte zu Hause einquarantänen?
Mehr als eine Empfehlung ist die Meldung nicht, das ginge auch gar nicht anders bei einer freiwillig genutzten App. Nutzer:innen können sich daran halten oder es bleiben lassen. Nehmen wir an, wir haben es mit eine:r verantwortungsbewusste:n Nutzer:in zu tun. Er:sie nimmt die Quarantäne-Meldung ernst und macht sich daran, die in der App gelisteten Hinweise – ans Gesundheitsamt wenden, Arzt kontaktieren – umzusetzen. Und dann?
Bisher, ohne App, lief es so: Das Gesundheitsamt, das über einen möglicherweise risikoreichen Kontakt informiert wurde, zum Beispiel weil ein Tischnachbar des Restaurantbesuchs von letzter Woche erkrankt ist, meldet sich. Es fragt die Kontaktsituation ab und entscheidet, ob eine Quarantäne nötig ist oder nicht. Im Idealfall gibt es regelmäßige Anrufe, um nachzufragen, ob alles in Ordnung ist, ein Test-Team, das zu Hause vorbeikommt und einen Abstrich nimmt, eine Bescheinigung für den Arbeitgeber, dass man wegen Quarantäne zu Hause bleiben muss, und das Angebot, den Kontakt zu lokalen Gruppen herzustellen, die bei Einkäufen und der Versorgung helfen.
Doch wenn, App-basiert, die Zahl der in Quarantäne Geschickten stark steigt, könnte folgendes passieren: Der:die verantwortungsbewusste Nutzer:in versucht zwei Tage lang die Hotlines von Gesundheitsamt, Stadt und ärztlichem Bereitschaftsdienst anzurufen, erfolglos. Nicht unrealistisch, so lief es nämlich zu Beginn der Pandemie. Der:die verantwortungsbewusste Nutzer:in hat also keine Quarantänebescheinigung für den Arbeitgeber. Keine Bescheinigung, keine Symptome? Und trotzdem 14 Tage zu Hause bleiben?
Spätestens wer zum dritten Mal in dieser Schleife landet, wird darüber nachdenken, ob der Löschen-Button nicht doch eine sinnvolle Option wäre. Und allen, die es wissen wollen, erzählen, dass das System Mist ist. Zwar hat die Bundesregierung mittlerweile festgelegt, dass, wer eine Quarantänemeldung per App bekommt, Anspruch auf einen Test hat. Das ist gut, aber zum einen machen das längst nicht alle Hausärzt:innen. Und zum anderen löst selbst ein Test den Rest der genannten Probleme nicht. Denn wie stellt das Robert-Koch-Institut so schön fest: Bei Kontakten der Risikoklasse 1 – was beispielsweise nach einem 15-minütigen Gespräch von Angesicht zu Angesicht der Fall ist, also genau die Situation, in der die App anschlägt – verkürzt auch ein negativer Test die 14-tägige Quarantäne nicht.
Was also passieren muss: Schnell und zuverlässig erreichbare zuständige Stellen, wenn ein:e Nutzer:in einen Quarantänehinweis bekommt. Und das braucht Geld und Personal, denn das lässt sich schließlich nicht erst dann anheuern, wenn die nächste Welle da ist.
Außerdem schnelle und unbürokratische Tests in einem Umfeld ohne Ansteckungsgefahr für alle, die sich sicher sind, dass sie eine falsch-positive Meldung der App bekommen haben. Und: Angesichts der aktuellen Forschungslage, die eine Inkubationszeit von einer guten Woche nahelegt, sollte die Quarantänezeit von 14 Tagen bei einem negativen Test gründlich überdacht werden. Eine gute Woche, das wäre schon deutlich überschaubarer.
Gesetzliche Regelung
Es gibt neben dieser Problematik noch einen weiteren Punkt, der die Bereitschaft zur freiwilligen App-Nutzung auf lange Sicht steigern könnte: ein Gesetz. Ob das notwendig ist, oder ob die Einwilligung ausreicht als Grundlage für die Datenverarbeitung, darüber streiten sich Jurist:innen seit einigen Wochen.
Selbst Justizministerin Christine Lambrecht (SPD), die ein Gesetz derzeit ablehnt, tat sich bei der Vorstellung der App etwas schwer zu erklären, warum ein Arbeitgeber seine Arbeitnehmer:innen nicht dazu verpflichten können soll, die App auf ihren Diensttelefonen zu installieren. Und es ist auch kein vollkommen abwegiges Szenario, dass eine Restaurantbetreiberin oder ein Ladeninhaber entscheidet: Bei mir kommt nur rein, wer seine App mit dem Hinweis „niedriges Risiko“ vorzeigt. Um seine Mitarbeitenden zu schützen, andere Kund:innen, sich selbst.
Es gäbe also einiges, was sich klarstellen ließe: Dazu wäre ein gutes, verbraucher- und privatsphärefreundliches Gesetz ein starkes Signal. Eines, das Ängste nimmt davor, dass die App mit der nächsten Infektionswelle doch zur impliziten Pflicht wird.
Open Source, ernsthafte Beteiligung der interessierten Community, ein guter Schutz der Privatsphäre, Datensparsamkeit – es sind zuletzt ein paar Dinge überraschend gut gelaufen bei der Corona-Nachverfolgungs-App. Es wäre schade, das damit aufgebaute Vertrauen zu verspielen. Jetzt, wo es sich auszahlen könnte.
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