Misshandlungen in einer Berliner Kita: Vertuscht, verschwiegen
Kinder sollen fixiert und gedemütigt worden sein: Die Vorwürfe gegen eine Erzieherin sind vielfältig, Eltern reagieren entsetzt.
Wenn ein Chef nicht weiß, wem er vertrauen kann, dann stimmt meistens entweder etwas mit der Belegschaft nicht – oder mit dem Chef. Dieser hier, Thilo Schwarz-Schlüßler, ist der Geschäftsführer einer Trägergesellschaft, die in Berlin fünf Kindertagesstätten betreut, unter anderem in Prenzlauer Berg. Das gemeinnützige Unternehmen heißt Kubibe und es geht um Misshandlungsvorwürfe im Haus 1 der Kita Gleimstrolche.
In mindestens fünf Fällen soll dort eine Erzieherin Kleinkinder, die nicht schlafen wollten, festgebunden und fixiert haben, mit dem Gesicht nach unten. In mindestens drei Fällen soll sie Kinder auf Matratzen in andere Zimmer getragen und dort aus einer Höhe von 50 bis 70 Zentimetern abgeworfen haben. Wenn Kinder nicht essen wollten, soll sie mit ihren Fingern nachgedrückt haben. Die Rede ist davon, dass sie mit Daumen und Zeigefingern etwa Mandarinen in den Mündern der Kleinkinder zerteilte. Dies geschah etwa in der „Schneckengruppe“. Dort können Kinder ab einem Alter von zehn Monaten betreut werden.
Das sind die Vorwürfe, die bislang bekannt sind und die im Raum stehen in dieser Einrichtung in Berlins Vorzeigeviertel Prenzlauer Berg, wo viele der Väter bei Elternabenden lässige T-Shirts oder feine Hemden tragen und Mütter gut geschnittene Röcke.
Der Chef wirkt verzweifelt
Die beschuldigte Erzieherin konnte von der taz nicht erreicht werden. Sie soll die Vorwürfe bestreiten.
Als Thilo Schwarz-Schlüßler an diesem Dienstagabend in der Kitaturnhalle im Kellergeschoss vor den Eltern sitzt, benutzt er sehr oft das Wort „ich“. Der Chef wirkt verzweifelt und schwitzt. Er schildert, was er alles versucht habe, um die Vorwürfe aufzuklären. Aber, sagt er, es habe nun mal einige Erzieherinnen gegeben, die sich ihm jetzt erst anvertraut hätten.
Thilo Schwarz-Schlüßler
Die Vorwürfe, um die es geht, stammen aus dem Herbst 2016. Heute fällt einigen Eltern auf: Das war eine Zeit, in der manche ihrer Kinder häufig weinten, wenn sie in der Kita bleiben sollten. Das war eine Zeit, in der einige ihrer Kinder Angstschübe hatten, wenn sie abends zu Hause zu Bett gehen sollten. Ein Vater, dessen Sohn in der Gruppe war, berichtet der taz davon, dass sein Sohn stets als Erstes das Licht anmacht, wenn er in einen Raum kommt. Eine Mutter sagt, sie sei verunsichert, weil sei ja nicht wissen könne, was alles passiert ist. Und immer wieder erzählen Eltern, dass ihnen nun bestimmte Verhaltensauffälligkeiten plausibel vorkämen, die sie sich zuvor nicht erklären konnten.
Als ein Vater beim Elternabend an diesem Dienstag erfährt, dass die Geschäftsführung bereits im Februar von Vorwürfen wusste, wonach Kinder in der Kita fixiert worden seien, verlässt er wutentbrannt den Raum. Er sagt: „Ich muss mich doch als Vater darauf verlassen können, dass ich erfahre, wenn es in der Kita zu besonderen Vorkommnissen kommt.“ Thilo Schwarz-Schlüßler hält dagegen: Im Februar sei ihm das Ausmaß der Vorwürfe noch gar nicht bewusst gewesen.
Etwa eine Woche ist es nun her, dass die Eltern von fünf Kindern einen Brief von der Geschäftsleitung des Trägervereins Kubibe bekommen haben. Darin heißt es: „Mehrere Kinder, darunter auch Ihres, wurden wiederholt körperlich und/oder psychisch gedemütigt.“ Weiter heißt es in dem Schreiben: „Die Vorwürfe und Hinweise sind so gravierend, dass ich als Geschäftsführer umgehend nach Bekanntwerden des vollen Ausmaßes personelle und strafrechtliche Konsequenzen ziehen musste.“
Fristlos entlassen
Eine der offenen Fragen ist: Was ist ein volles Ausmaß? Und wie konnte es dazu kommen, dass andere Erzieherinnen offenbar wegschauten, als Kinder zum Schlafen gefesselt und fixiert wurden?
Inzwischen, so bestätigt Geschäftsführer Schwarz-Schlüßler, sei die Pädagogische Leitung im Haus 1 freigestellt worden und die beschuldigte Erzieherin fristlos entlassen. Kommissarisch hat nun eine Kollegin die Leitung übernommen: Aus dem Haus 2, einer Kita direkt nebenan unter der gleichen Trägerschaft. Aufgrund pädagogischer Differenzen wurden die Einrichtungen schon vor Jahren getrennt. Die Vorwürfe heute beziehen sich nur auf Haus 1.
Ein Vorwurf, der im Raum steht: Die bisherige Leitung der dortigen Kindertagesstätte habe die Vorfälle offenbar gedeckt – oder sich zumindest einer Aufklärung verweigert.
So jedenfalls erklärt die Geschäftsführung der Trägergesellschaft den Eltern, weshalb im Februar lediglich disziplinarische Maßnahmen ergriffen wurden und die Erzieherin in eine andere Gruppe versetzt wurde. Im Klartext: Worum es wirklich ging, sei dem Träger damals nicht klar geworden – auch weil die Leitung des Hauses eine unrühmliche Rolle gespielt habe. Das „volle Ausmaß“ sei auch deshalb nicht bekannt geworden, weil Zeuginnen nicht offen gewesen seien. Und heute? Ist denn heute „das volle Ausmaß“ bekannt?
Psychodrama unter den Kolleginnen
Damit beginnt eine Deutungsschlacht um die Frage: Wer hat wann was gesagt? Warum wollten, konnten oder durften andere Erzieherinnen sich nicht äußern?
Als die beschuldigte Erzieherin Ulrike A. in Folge dieser Vorwürfe aus dem Februar versetzt wird, nimmt in der Kindertagesstätte ein Psychodrama unter den Erzieherinnen seinen Lauf, bei dem es um Kollegialität geht, um falsch verstandene Loyalität und um die Frage, was an den Strukturen nicht stimmt, wenn sich niemand traut, zum Chef zu gehen, auch an der Kita-Leitung vorbei. Sind dann die Erzieherinnen schuld? Oder ist es vielleicht auch der Chef?
Erst Anfang April, Monate nach den inzwischen dokumentierten Geschehnissen und Wochen nach ihrem Bekanntwerden, geht laut der zuständigen Kita-Aufsicht in Berlin-Pankow dort eine Meldung ein.
Unterdessen erleben die Eltern in der Kita vor allem einen kaum noch zu erklärenden Krankenstand. Etliche Erzieherinnen haben sich krankgemeldet. Ausgerechnet die Gruppe der Kleinsten, wo es zu den Vorfällen kam, ist besonders betroffen. Dem Träger gelingt es nicht, Ersatz für die vielen Ausfälle zu beschaffen und die teils möglicherweise traumatisierten Kinder adäquat zu betreuen. Anfang Mai wird ein Zettel ausgehängt. Eltern der „Schnecken“ werden gebeten, ihre Kinder mittags abzuholen oder auch ganz zu Hause zu lassen. Auf dem Zettel steht unter anderem: „Die Fürsorge- und Aufsichtspflicht ist zurzeit in der Gruppe nicht mehr gewährleistet.“
Schnell den Arbeitgeber gewechselt
Sprecher von Sandra Scheeres
Ab diesem Zeitpunkt wird es weitere drei Wochen dauern, bis viele Eltern erstmals offiziell erfahren, was der Hintergrund des massiven Krankenstandes ist. Erst am 24. Mai geht dann in einem Schreiben an die Elternvertreter ein Brief heraus, in dem auf die Vorgänge hingewiesen wird. Schriftlich nach Hause erhalten offenbar lediglich fünf Eltern ein Schreiben. Das sind jene, deren Kinder nachweislich betroffen sind. Oder anders gesagt: bei denen sich aufgrund eindeutiger Zeugenaussagen nicht mehr abstreiten lässt, dass sie betroffen sind. Der Geschäftsführer des Trägervereins selbst, Thilo Schwarz-Schlüßler, sagt, ihm selbst sei das Ausmaß erst am 18. Mai klar geworden.
Denn in der Zwischenzeit, und das ist entweder eine Besonderheit oder ein Drama, haben sich einige Erzieherinnen zu reden getraut. Wer jedoch vor allem aussagt: ehemalige Praktikantinnen und frühere Mitarbeiterinnen, die die Praktiken in der Gruppe beobachtet haben und sich schnell entschieden, den Arbeitgeber zu wechseln. Einige von ihnen sind nun bereit, eidesstattliche Versicherungen abzugeben. Das könnte nicht nur die beschuldigte Erzieherin Ulrike A. in Schwierigkeiten bringen, sondern unter Umständen auch den Kita-Träger Kubibe.
Ein Sprecher der zuständigen Berliner Jugendsenatorin Sandra Scheeres (SPD) sagte der taz: „Wir halten den Fall für sehr ernst und gravierend. Aus unserer Sicht sind die Vorwürfe sehr erheblich.“
Vor den Eltern sagte Thilo Schwarz-Schlüßler am Dienstag: „Ich habe Verständnis für alle Eltern, die ihre Kinder nun bei uns abmelden.“ Erste Eltern haben das bereits getan. Andere baten darum, die Kita nun keinesfalls zu schließen. Am kommenden Dienstag bleibt das Haus 1 nun für einen Tag geschlossen. Dann sollen die Mitarbeiterinnen mit dem Chef über ihre Gesprächskultur reden, über Loyalität und Kollegialität.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Biden genehmigt Lieferung von Antipersonenminen