Misshandlungen in der Kinderverschickung: Viel zu späte Aufarbeitung
Unzählige Kinder haben Gewalt in Kurheimen erlebt. Die Bundespolitik entzieht sich der Aufarbeitung. Nun konstituierte sich in NRW ein Runder Tisch.
Obwohl ein Massenphänomen, kommt die Aufarbeitung der Schicksale dieser Verschickungskinder nur langsam in Gang. Sei es, weil sie anders als Heimkinder nur zeitweise aus ihren Familien genommen wurden und sie ihre Erfahrungen kaum haben skandalisieren können; sei es, weil Jahrzehnte später kaum noch Unterlagen in Familien oder Archiven vorhanden sind.
Doch seit 2019 erfährt das Thema Kinderverschickung mehr und mehr öffentliche Aufmerksamkeit. Damals begannen lokale Betroffeneninitiativen bundesweit, sich unter dem Dach von www.verschickungsheime.de zusammenzuschließen. In Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen gab es Anhörungen im Landtag, auf Landesebene entstanden eigenständige Vereine. Im Landesarchiv Baden-Württemberg gibt es seit dem 1. Mai 2022 zwei Projektstellen mit je 80 Prozent Stellenumfang, das Projekt läuft bis zum 31.10.2024. In NRW gibt es ein auf vier Jahre gefördertes Citizen-Science-Projekt mit eigenem Büro.
Am 23. März nun trat in Nordrhein-Westfalen ein Runder Tisch zusammen, unter der Obhut des Gesundheits- und Familienministeriums und geleitet von Elisabeth Auchter-Mainz, der ehemaligen Opferbeauftragten von NRW.
„Von den Alpen bis zur Nordsee“
Zu der konstituierenden ersten Sitzung eingeladen und gekommen: Vertreter.innen der Trägerorganisationen in rechtlicher Nachfolge wie etwa Diakonie, Deutsches Rotes Kreuz, Caritas, Arbeiterwohlfahrt, Landschaftsverband Rheinland oder Deutsche Rentenversicherung, die GKV (Allgemeine Krankenversicherung) als Spitzenverband aller Kranken- und Pflegekassen. Mit dabei: Detlef Lichtrauter vom Verein Aufarbeitung Kinderverschickungen-NRW und der Jurist Joachim Desens als Vertreter der Verschickungskinder.
Rund 1,8 Millionen Kinder aus dem bevölkerungsreichen NRW waren im Laufe von vier Jahrzehnten quer durch die Republik auf Kur geschickt worden. „Von den Alpen bis zur Nordsee gab es Kinderkurheime“, sagt Desens der taz am Telefon eine Woche später. „Wie war es möglich, dass Kinder so großflächig, so lange und in so großer Zahl verschickt worden sind?“
Desens arbeitet heute im Land Brandenburg als Staatsanwalt, stammt aber aus dem Rheinland. Als Vierjähriger kam er in eine Kinderheilstätte, aus sechs Wochen wurde ein ganzes Jahr. „Was für ein Selbstverständnis hatten die Betreiber der Heime, die Ärzte, die Betreuer?“, fragt er. „Kinder sollten nicht nur gesund gemacht werden, man wollte sie auch erziehen.“
Desens befürwortet eine wissenschaftliche Aufarbeitung der ganzen Thematik. Als Vertreter der Verschickungskinder fordert er die Einrichtung eines Therapiefonds, über dessen Höhe in den nächsten Runden zu verhandeln sein wird.
Schlechte Aktenlage
„So machen wir klar, was mit den Geldern projektgebunden geschehen soll“, sagt Detlef Lichtrauter vom Verein Kinderverschickungen-NRW am Telefon. Eine Entschädigung in Form von Schmerzensgeldzahlungen zögen sie nicht in Betracht: „Nachweise für das erlittene Unrecht zu erbringen, ist aufgrund der schlechten Aktenlage unfassbar kompliziert.“
Immerhin: Alle teilnehmenden Träger verpflichteten sich selbst, die Aktenlage zu sichern und keine relevanten Dokumente zu vernichten. „Wir sind auf den Goodwill der Teilnehmer angewiesen“, sagt Lichtrauter. „Der Runde Tisch hat keine Beschlussfähigkeit.“ Er fürchtet, dass die Verbände die Verantwortung auf die bundespolitische Ebene abschieben könnten.
Alle Teilnehmenden hätten sich bemüht zu dokumentieren, wie eifrig sie die eigenen Archive durchforscht haben. „Die innerbetrieblichen Nachforschungen haben aber bisher wenig Erkenntnisse gebracht“, stellt er enttäuscht fest. „Wir fordern eine unabhängige wissenschaftliche Aufarbeitung.“
Wenn die beauftragten Forscher aus dem eigenen Haus kämen oder von einer nahen Einrichtung entsandt werden, sei die Befangenheit größer. „Das haben wir ja bei der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle der katholischen Kirche gesehen, wo so ein Bericht schnell mal durch einen Bischof Woelki einkassiert wurde“, sagt Lichtrauter.
„Läppisch, schlaffe Muskulatur“
Er erwartet von den Trägerorganisationen – allen voran der evangelischen Diakonie und der katholischen Caritas, aber auch den Landschaftsverbänden Rheinland und Westfalen-Lippe –, dass sie externe Historiker in die Archive schicken. „Wichtig ist: Wen schickt man und wonach lässt man suchen? Dafür müsste man auch bereit sein, Protokolle von Vorstandssitzungen zu durchforsten, Verantwortlichkeiten zu benennen.“
Dass Archivrecherche lohnt, aber auch individuelle Initiative erfordert, zeigt ein Aktenfund im Kreisarchiv Geldern, den eine Archivarin digitalisiert und zugänglich gemacht hat. Die Akten gewährten genauen Einblick in den Ablauf des Verschickungswesens, sagt Lichtrauter: Eltern mussten Verdienstbescheinigungen vorlegen und je nach Einkommen sogar Zuzahlungen leisten.
Marc von Miquel, Historiker
In den Akten finden sich so genannte Kurüberwachungsscheine, in denen die Eingangsdiagnostik dokumentiert ist. „Läppisch“, sagt Lichtrauer, „schlaffe Muskulatur, schlechte Körperhaltung und Blässe werden als Gründe für die Verschickung benannt.“
Für die Sozialverbände und anderen Träger ist der Runde Tisch „ein bekanntes Format“, sagt der Historiker Marc von Miquel. Er ist als Experte dabei, weil er 2022 für die Dokumentations- und Forschungsstelle der Sozialversicherungsträger (sv:dok) eine Studie zu NRW erstellt hat. Aber wie bei den Heimkinder- und Missbrauchsskandalen kämen die Erkenntnisse nur „scheibchenweise“ ans Licht, da unbekannte historische Zusammenhänge zu erforschen seien.
Initiativen einbeziehen
Auch von Miquel kritisiert, dass unzureichende Studien entstanden seien, „Mikropublikationen unterbezahlter Historiker:innen“, um zu zeigen, dass man seine Pflicht getan habe. „Das kann’s nicht gewesen sein“, sagt er. „Die Kommunen, Krankenkassen und Sozialverbände stehen in der Pflicht, zusammenzuarbeiten und aufzuklären.“
Dass einige der bisher entstandenen Studien unzureichend seien, könnte laut von Miquel daran liegen, dass „die Verbände nicht mit der Initiative der Verschickungskinder zusammenarbeiten“. Das Konzept der Citizen Science, also dem Zusammenwirken zivilgesellschaftlicher Initiativen, Biografieforschung und wissenschaftlichen Projekten, sei ihnen fremd.
Es geht auch anders. Derzeit läuft ein Aufruf zur Beteiligung an einer Studie zum Medikamentenmissbrauch an Kindern in stationären Einrichtungen von 1949 bis 1980, die vom Land NRW in Auftrag gegeben wurde.
Dass Kindern in Kinderkurheimen Mittel zur Ruhigstellung oder womöglich testweise als Versuchskaninchen der Pharmaindustrie oder der mit ihr kooperierenden Ärzt:innen verabreicht wurden, ist ein bisher nur punktuell untersuchter Verdacht. Für das Kindersolbad Bad Dürrheim in Baden-Württemberg gibt es im Fall eines Arztes klare Erkenntnisse und eindeutige Belege.
Valium und Neuroleptika
„Ein Zwischenbericht zur NRW-Studie soll im Oktober erscheinen, sie läuft noch bis Ende 2024“, erklärt Sylvia Wagner von der Uni Düsseldorf, Pharmazeutin und Teil eines interdisziplinären Forschungsteams unter Leitung des Medizinhistorikers Heiner Fangerau. „Vor allem personenbezogene Daten sind sehr schwer zu kriegen“, sagt Wagner am Telefon. „Dass wir jetzt einen offiziellen Forschungsauftrag vom Land haben, erleichtert die Sache.“
Dennoch sei die Quellenlage schwierig, weil viele Akten verschwunden oder an unbekannte Orte verlagert wurden. 1978 trat in der Bundesrepublik ein strengeres Arzneimittelgesetz in Kraft, die Studie erstreckt sich darum auf die Jahre 1948 bis 1980. Wagner hofft auf das Zeitzeugenportal des Instituts zur Heimerziehungsforschung sowie das des Vereins Verschickungskinder-NRW, das den Aufruf unterstützt.
Dass Kindern in stationären Einrichtungen „häufig Präparate zur Ruhigstellung gegeben wurden“, so viel kann Wagner jetzt schon bestätigen. Mittel wie Baldrian, „in einigen Fällen auch stärkere Mittel wie Valium oder Neuroleptika, die Kinder eigentlich nicht kriegen sollten“.
Es diente, vermutet Wagner, der Arbeitserleichterung des Betreuungspersonals. Und möglicherweise den Interessen mancher Ärzt:innen, die mit der Pharmaindustrie kooperierten. An an Tuberkulose erkrankten Kindern wurden Medikamententests durchgeführt, darauf hat Fangeraus Team bereits Hinweise.
Der Bund sitzt es aus
„Wir gehen hoffnungsvoll aus der ersten Runde“, sagt Joachim Desens als Vertreter der Verschickungskinder eine Woche nach dem Treffen des Runden Tischs. Einige Teilnehmer hätten sich „aufgeschlossen gezeigt, andere eher zurückhaltend reagiert“. Es wurden Arbeitsgruppen eingerichtet, bevor der nächste Runde Tisch am 26. September wieder zusammenkommt.
NRW-Gesundheits- und Sozialminister Karl-Josef Laumann (CDU) forderte in seiner Eröffnungsrede ein bundesweit koordiniertes Vorgehen zur Aufarbeitung der Kinderverschickung und zeigte sich offen für eine Bund-Länder-Gruppe. „Das Bundesfamilienministerium stellt sich leider tot“, sagt Detlef Lichtrauter.
Bei einem langen erbetenen Besuch der Bundesinitiative der Verschickungskinder bei Lisa Paus (Grüne) im vergangenen Herbst hatte der Bund die Verantwortung an die Länder verwiesen. Die Bundesinitiative ruft deswegen am 19. April zu einer „Aktion Kinderkoffer“ vor dem Reichstag auf, um ihrer Petition zur Einrichtung einer unabhängigen „Kommission Kinderverschickung“ Nachdruck zu verleihen.
„Warst Du etwa nicht artig?“
Joachim Desens, Jahrgang 1958, musste als Vierjähriger ein ganzes Jahr in einer Kinderheilstätte verbringen. Es sind keine guten Erinnerungen. Der Ablauf im Heim sei geprägt gewesen durch Essenszwang und Züchtigung bei nicht steuerbaren Vorgängen wie beispielsweise Erbrechen, wiederum oft gefolgt von dem Zwang, das Erbrochene aufzuessen.
„Ich habe immer gedacht, es wäre nur in meinem Heim so gewesen“, sagt der heutige Staatsanwalt. „Die Generation unserer Eltern war autoritätsgläubig. Bei Konflikten mit Autoritätspersonen erfolgte meist die Frage: Warst du etwa nicht artig?“
Erst in späteren Jahren konnte Desens mit seinen Eltern über das Erlebte sprechen. Vor zwei Jahren wurde er durch einen Artikel auf die NRW-Initiative aufmerksam. Nun bringt er seinen juristischen Sachverstand beim Runden Tisch ein. „Wie war es möglich, dass überall in Deutschland rechtsfreie Räume entstanden sind?“, fragt er. Dies steht nicht nur für ihn als große Frage im Raum.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Berliner Sparliste
Erhöht doch die Einnahmen!
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid