Misere der Pflegekasse: Abstieg in die Unterversorgung
Solidarität heißt, die finanzielle Last breit zu verteilen. Eine Individualisierung der Pflege wäre ein Rückschritt.
N un herrscht wieder Alarm. Die Zahl der Pflegebedürftigen steigt! Und es fehlen Hunderttausende von Pflegekräften. Was tun? Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat bereits erklärt, eine Finanzreform der Pflege sei in dieser Legislaturperiode mit der Ampel-Regierung nicht zu machen. Es geht also weiter wie bisher. Das Pflegerisiko wird zunehmend individualisiert. Deutschland befindet sich in der Pflege auf dem Weg in die Unterversorgung.
Wer pflegebedürftig wird, womöglich in einem höheren Pflegegrad, muss steigende Eigenanteile selbst bezahlen, ob für den Heimaufenthalt oder die Versorgung daheim durch ambulante Dienste. Um den Besitz, das Häuschen, zu schützen und nicht zum Sozialfall zu werden, werden die Aufträge von den Pflegebedürftigen nicht selten gekürzt. Dann wird die alte Dame oder der alte Herr eben nur noch alle zwei Wochen geduscht. Die Inkontinenzvorlage wird nur noch einmal am Tag gewechselt.
Essen und Trinken wird nur noch so hingestellt. Mit der Individualisierung vermeidet man in der Politik den Streit um die Finanzierung der Pflegekosten. Inwieweit kann man die Pflegebeiträge erhöhen, was die Krankenkassen jetzt schon ankündigen? Höhere Beiträge belasten die Arbeitslöhne. Welche Steuermittel könnte man einsetzen? Steuererhöhungen für die Pflege stehen nicht auf der Agenda der Ampel-Regierung. Soll man private und gesetzliche Pflegeversicherung zusammenlegen?
Das ist kompliziert und der Ertrag wäre begrenzt. Trotzdem müssen all diese Fragen angegangen werden. Sonst entwickelt sich die Pflege wieder zurück in die Verhältnisse des vergangenen Jahrhunderts, als fast alle Pflegekosten selbst bezahlt werden mussten. 80 Prozent der Pflegeheimbewohner bezogen Hilfe zur Pflege vom Sozialamt. Eine Pflegekasse gab es nicht. Dahin zurück will heute niemand.
Dafür muss man sich ehrlich machen. Die Gesellschaft der Langlebigen hat ihren Preis. Wie breit diese Belastung verteilt wird, sagt etwas aus über den Solidaritätslevel im Sozialstaat.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
100 Jahre Verkehrsampeln
Wider das gängelnde Rot
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Baerbock warnt „Assads Folterknechte“
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt