Migration nach Lampedusa: Transit vor Europa
In Tunesien sammeln sich tausende Geflüchtete. Sie wollen weiter nach Lampedusa. Der Staat hat die Situation alles andere als unter Kontrolle.
S abr Hamedi steht in den verwaisten Gassen von Afara, einem Stadtteil der tunesischen Hafenstadt Sfax, und wirkt zufrieden. „Gut dass sie weg sind“, sagt er. Vor zwei Wochen hatten Migrant:innen den weitläufigen Stadtteil noch in einen quirligen Markt verwandelt. Nun erinnern nur noch einige am Boden liegende bunte Stoffe an das Getümmel. Polizeieinheiten der Sondereinheit „BIS“ hatten in der vergangenen Woche die letzten hier noch lebenden Migrant:innen nachts aus ihren Häusern geholt und außerhalb der Stadt ausgesetzt.
Angesichts der wachsenden Wirtschaftskrise und einem Vorfall im Februar kippte die Stimmung gegen Migrant:innen in den vergangenen Monaten. Seither werden sie systematisch aus der Stadt vertrieben und sammeln sich in kleineren Küstenorten außerhalb der Stadt. Für die Migrant:innen ist Tunesien nur ein Zwischenstopp, sie wollen weiter nach Lampedusa.
Die Mehrheit der dort ankommenden Boote legen von den Küsten nördlich von Sfax ab. Am Sonntag vor einer Woche kamen an einem einzigen Tag 5.000 Migrant:innen in Italien an. In Brüssel und Rom führen diese stark steigenden Zahlen zu Unmut. Mit dem im Juli unterzeichnetem Abkommen mit Tunesiens Präsident Kais Saied hatte man Finanzhilfen von über einer Milliarde Euro im Gegenzug zu einem verstärkten Vorgehen der tunesischen Sicherheitskräfte gegen die Schmuggler in Aussicht gestellt.
Ursula von der Leyen, die Präsidentin der Europäischen Kommission, reiste am vergangenen Sonntag mit Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni nach Lampedusa, um sich ein Bild von der Lage auf der Insel zu machen. Die beiden kündigten einen 10-Punkte-Plan an, mit dem der zunehmend umstrittene „Migrationspakt“, der im Juli mit Tunesien unterzeichnet wurde, gerettet werden soll. Zu den neuen Maßnahmen gehört die Aufstockung der Gelder an die Behörden, die „an der Bekämpfung der irregulären Migration nach Europa“ beteiligt sind. In Sfax ist von einer Verbesserung der Lage noch nichts zu spüren.
Afara wurde in den letzten zwei Jahren zum Ziel der nach Europa reisenden Migrant:innen aus West- und Zentralafrika. Sabr Hamedi und seine Freunde sind froh, dass die Geflüchteten jetzt weg sind. Gleichzeitig sind sie auch ein wenig wehmütig. Denn mit ihrer Abreise ist auch eine Geldquelle verloren gegangen. 20.000 Menschen kamen über Algerien oder Libyen hierhin, schätzt Hamedi, der an der Universität von Sfax als Ingenieur lehrt. Als Tagelöhner auf Olivenhainen und kleineren Betrieben außerhalb von Sfax verdienen sie das nötige Geld, um die Überfahrt von einem der nahegelegenen Fischerdörfer nach Lampedusa zu finanzieren. Zudem profitierten die Einheimischen mit dem Vermieten von Wohnungen und Läden. Es war eine Win-Win-Situation, doch im Februar eskalierte die Lage mit einem vermeintlichen Mord.
Ein paar Straßen weiter war damals ein aus Afara stammender Vermieter unter bis heute ungeklärten Umständen ums Leben gekommen. „Es gab angeblich Streit mit Migrant:innen aus der Elfenbeinküste, die nicht wie abgesprochen zu viert, sondern mit doppelt so vielen Menschen eingezogen waren“, erinnert sich Hamedi. Dann ging plötzlich alles ganz schnell. Die Wut über die seit Beginn des Ukraine-Krieges rasant gestiegenen Preise, die wachsende Zahl neu eintreffender „Afrikaner“ und der Mord hätten zu ersten Straßenprotesten der Anwohner geführt, sagen die Nachbarn von Sabr Hamedi.
Ihren Höhepunkt erreichte die Hetze mit einer Rede des tunesischen Präsidenten Kais Saied eine Woche nach dem Mord. Dieser hatte angesichts der Wirtschaftskrise an Popularität verloren und nutzte den Moment, um sein Image zu polieren. Öffentlich bezeichnete er die meist ohne gültige Aufenthaltsgenehmigung in Tunesien lebenden Migrant:innen als „Verschwörung gegen die arabische und islamische Identität“ Tunesiens. Stunden später rollte eine Welle der Gewalt durch Tunis und die 280 Kilometer südlich gelegene Industrie-und Handelsstadt Sfax. „Wir Anwohner beschlossen spontan, sie gemeinsam auf den Beb Jebli-Platz im Stadtzentrum zu treiben“, sagt ein Bewohner aus Afara.
Mitte September ist die riesige Rasenfläche des Beb Jebli-Platzes menschenleer. Vergangene Woche schliefen auf dem Kreisel jede Nacht noch hunderte Menschen, die aus ihren Wohnungen vertrieben worden waren. Jetzt stehen hier nur Polizisten im Schatten der Straßenbäume und beobachten stumm des Geschehen. Das Geschäft mit den aus Algerien und aus Libyen eintreffenden Migranten wird wieder heimlich betrieben.
Fast stündlich kommen Flüchtlinge aus dem Sudan und Äthiopien in Sammeltaxis am Beb Jebli an. Bis vor Kurzem vernetzten Mittelsmänner die Ankommenden nach wenigen Minuten mit Schmugglern und anderen Migrant:innen, die entlang der 50 Kilometer langen Küste nach Lampedusa fahren wollten. „Nun verlassen sie umgehend die Stadt oder verstecken sich“, sagt der Taxifahrer Osama. Seitdem die schwarz gekleideten Polizeieinheiten im Einsatz sind, muss auch er vorsichtig sein. Taxifahrern ist das Mitnehmen von Migrant:innen verboten.
„Aber ich kenne die Schleichwege und drücke einigen Leuten ein wenig Geld in die Hand“, lacht er. Die umgerechnet 30 Euro, die ihm Migrant:innen für die 30 Kilometer von Ben Jebli nach El Amra zahlen, verdient der 35-Jährige sonst in zwei Tagen. Dass Sfax nun migrantenfrei ist, haben ein paar Nationalisten am Wochenende mit einer kleinen Demonstration gefeiert. „Aber für viele von uns war Migration die einzige wirklich lukrative Einnahmequelle, wir sehen mit Sorgen in die Zukunft.“, sagt ein anderer Taxifahrer.
Um die ehemals in Sfax lebenden Menschen zu treffen, folgt man einfach den vielen Menschen, die am Straßenrand mit Rucksäcken und Wasserflaschen bepackt gen Norden gehen. Weil die Einsatzkommandos der Polizei nach Sonnenuntergang alle nicht Einheimischen einsammeln und am Stadtrand aussetzen, machen sich seit letztem Montag auch diejenigen auf den Weg, die bisher noch in Sfax ausgeharrt hatten. Ihr Ziel ist das Fischerdorf El Amra.
Die Landstraße dorthin führt an Olivenfeldern und Fabriken vorbei. Hunderte Migrant:innen sind heute unterwegs. Am Straßenrand stehen vereinzelt junge Männer aus Westafrika, die sich dort das Geld für die Überfahrt nach Lampedusa verdienen. „Die 1.000 Dinar (umgerechnet 320 Euro), habe ich in zwei Wochen zusammen“, sagt der Nigerianer Jonathan und geht zurück in den Schatten eines Olivenbaumes. Zwei Männer aus der Elfenbeinküste gehen trotz der stechenden Sonne weiter, sie zeigen Vorbeifahrenden, dass ihre Plastikflaschen mit Wasser leer sind.
„Ich habe kein Geld in der Tasche,“ sagt Issouf, seinen echten Nachnamen will er nicht nennen. Am Vortag hatte eine tunesische Marine-Patrouille ihr Boot mit 30 anderen Migranten vor Sfax aufgebracht. „Sie brachten uns in den Hafen von Sfax und sagten, wir sollen wegen des auffrischenden Windes ein paar Tage warten, bis wir es wieder probieren.“ Nun schlagen sich die beiden bis nach El Amra durch und arbeiten tageweise bei Bauern. „Spätestens in zwei Wochen probieren wir wieder, mit dem Boot nach Lampedusa zu gelangen“, sagt Issouf.
Wenige Minuten in einem Café der kleinen Gemeinde El Ghroub, direkt am Stadtrand von Sfax, reichen, um zu verstehen, wie sich alle Akteure an die neue Lage anpassen. Statt in Sfax tümmeln sich die Migrant:innen jetzt hier. „Vor Kurzem hatte ich ein paar schlecht gelaunte Kunden am Tag und wollte dicht machen“, lacht der Besitzer Yassin. Auch er bittet, seinen Nachnamen und den Namen des Cafés nicht zu veröffentlichen. Ansonsten spricht er inmitten von mindestens 80 Gästen ganz offen über die Geschehnisse der letzten Tage.
Mohamad, Cafébetreiber
Ein sudanesischer Mittelsmann wäre zusammen mit einem Fischer aus dem Dorf aufgetaucht und habe nach Häusern gesucht. Wegen der günstigen Mieten und der Nähe zu dem Fischerhafen Sidi Mansour hatten sie den Ort als neuen Logistik-Hub für die sudanesischen Flüchtlinge ausgewählt. Die jungen Sudanesen sitzen in Yassins Cafe und spielen Karten. Als wir mit einigen ins Gespräch kommen wollen, legt ein in der Ecke sitzender Mann den Zeigefinger auf seine Lippen. Niemand traut sich, mit einem Journalisten zu sprechen.
Im Minutentakt fahren junge Tunesier vor und handeln mit kleinen Gruppen von Gästen die Preise für die Überfahrt nach Lampedusa aus. Ein Lieferwagen aus Sfax bringt Matratzen und neue Ware für den Supermarkt. „Zuerst waren einige meiner Nachbarn sauer, dass hier plötzliche mehrere Hundert Sudanesen leben“, berichtet Yassin und zuckt mit den Schultern. „Ich habe sie daran erinnert, dass wir alle noch vor einem Jahr kaum Geld zum Essen hatten und es nun allen im Dorf wirtschaftlich gut geht.“ Ein Polizeijeep mit Beamten in Zivil fährt im Schritttempo vorbei. „Sie wissen Bescheid, was hier vor sich geht, aber sorgen nur dafür, dass alles friedlich bleibt“, sagt Yassin.
Auch das selbst in Sfax bisher kaum bekannte Dorf El Amra erlebt durch die wachsende Zahl an Migrant:innen einen nie da gewesenen Wirtschaftsboom. In den Cafés sitzen die Migranten neben furchteinflößend dreinschauenden Fischern. „Ist doch klar, warum die Behörden jetzt alle hier zu uns bringen“, sagt Mohamad, der „Frikasse“- Brötchen in eine Fritteuse wirft. „Der Staat ist doch in Wirklichkeit gar nicht in der Lage das Phänomen der Migration zu begrenzen, so wie man es den Europäern versprochen hat. Daher hat man das Geschehen einfach in die entlegenen Dörfer verlagert. Aber glauben Sie mir, alle, die Sie hier sehen, sind spätestens im Oktober auf Lampedusa.“
In Sfax feiern die Medien derweil den Erfolg der Intervention aus Tunis. „Sfax ist wieder sauber“, sagt ein Moderator des Radiosenders Diwan FM. In der nächsten Woche will die Stadtverwaltung von Sfax damit beginnen, die Bürgersteige und Straßen zu renovieren und für die Ankunft der Touristen vorzubereiten. Viele Einheimische glauben, dass Migrant:innen wieder in die Stadt kommen, sobald die Sondereinheiten der Polizei weg sind. Und die Migration nach Lampedusa geht weiter.
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