Migration aus Tunesien: Die junge Generation geht
Die Fluchtroute von Tunesien nach Europa ist weitgehend unbewacht. Bis zu 30 Prozent seiner Schüler würden verschwinden, erzählt ein Lehrer.
Der Weg nach Europa ist nicht weit. Von der tunesischen Halbinsel Kap Bon sind es nur rund 150 Kilometer. Von der südtunesischen Stadt Sfax aus ist man in rund 15 Stunden auf Lampedusa. Da sich private Rettungsorganisationen und die italienische Küstenwache auf die libysche Küste konzentrieren, ist die Tunesienroute weitgehend unbewacht. Zwar erhalten Tunesier in Italien meist kein Asyl und müssen so schnell wie möglich auf eigene Kosten zurück in ihre Heimat fliegen, doch aufgrund der Überlastung in den Aufnahmelagern gelingt es vielen, illegal im Land zu bleiben.
Tunesien macht derzeit eine schwere Wirtschaftskrise durch. Nach einem im März wegen der Coronapandemie verhängten Lockdown ist die Zahl der Infizierten in dem 11-Millionen-Einwohner-Land extrem niedrig. Dass es weniger als 1.500 Covid-19-Fälle gibt und zurzeit kein einziger Patient auf einer Intensivstation liegt, gilt als Folge des strikten Vorgehens des ehemaligen Regierungschefs Elyes Fakhfakh.
Dennoch fällt die Tourismussaison in diesem Jahr so gut wie aus und auch die tunesische Zulieferindustrie für europäische Automobilfirmen nimmt nur langsam wieder Fahrt auf. Die Arbeitslosenquote ist sprunghaft angestiegen. Genaue Zahlen gibt allerdings nicht, denn im Süden Tunesiens wird über die Hälfte des Bruttosozialprodukts im informellen Sektor erwirtschaftet. Selbst in den Hotels auf Djerba und in Restaurants in dem Ferienort Hammamet arbeiten fast alle ohne Arbeitsvertrag und meist nur in den Sommermonaten.
Hotels stehen leer
„Ich rechne damit, dass nach dem Ende der Sommerferien über 60 Prozent der Hotels auf Djerba endgültig schließen werden“, sagt Farhat Bentanfous, Vizepräsident des Hotelierverbandes und zudem deutscher Honorarkonsul auf der Ferieninsel.
In der südlich von Djerba gelegenen Mittelmeerstadt Zarzis waren im vergangenen Jahr die Hotels noch voll. Russische, chinesische und algerische Kunden trafen auf Libyer und Europäer, die von niedrigen Preisen angelockt wurden. In diesem Jahr wirkt die Tourismuszone von Zarzis wie eine Geisterstadt.
Wer 3.000 tunesische Dinar (900 Euro) aufbringen kann, versucht einen Platz auf einem Boot nach Italien zu ergattern. Der Direktor eines staatlichen Gymnasiums in Zarzis, Mehrez Tarzim, sitzt grimmig in einem Café im Zentrum der Hafenstadt und berichtet über die Fluchtwelle an seiner Schule. „In einigen Klassen verschwinden bis zu 30 Prozent der Jungs vor ihrem Schulabschluss. Die Mädchen hingegen halten fast alle durch und bauen sich durch Bildung eine Existenz in Zarzis auf.“
Er hat die weit verbreitete Korruption und die seit der Ben-Ali-Diktatur kaum reformierte Bürokratie kennengelernt. „Wer sich mit einer guten Geschäftsidee selbstständig machen will oder einen besseren Job sucht, braucht familiäre oder politische Kontakte.“
Viele kommen aus Westafrika
In Städten wie Zarzis, Medenine oder Sfax kommen nun auch immer mehr Migranten und Flüchtlinge aus Libyen an, wo Folter und Entführung immer noch Alltag sind. Viele kommen ursprünglich aus Westafrika und arbeiten zu Minilöhnen auf Farmen oder Baustellen. Queen und Jonathan kommen aus Nigeria und sind vor dem Terror von Boko Haram zunächst nach Zarzis geflohen. Queen möchte ihren Nachnamen aus Angst vor libyschen Milizen nicht veröffentlicht sehen.
Anfang März floh sie zu Fuß mit ihrem dreijährigen Sohn über die libysch-tunesische Grenze. „Jonathan und ich haben auf der privaten Olivenfarm des Chefs des UNHCR für weniger als 100 Euro im Monat gearbeitet“, sagt sie. „Selbst die tunesischen Familienväter verdienen als Bauarbeiter mit umgerechnet 150 Euro weniger, als sie zum Überleben ihrer Familie brauchen.“
Nach Ausbruch der Coronakrise musste Jonathan seinen kleinen Gemüseladen in Zarzis schließen. Jetzt hoffen beide auf finanzielle Unterstützung ihrer Familie aus Nigeria. „Zusammen mit Tunesiern aus der Nachbarschaft wollen wir ein Boot kaufen“, sagt sie mit ihrem Sohn im Arm.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“