Migrant:innen in Tunesien: Ohne Perspektive
In Tunis eskaliert auf den Straßen Gewalt gegen Migrant:innen aus der Subsahara. Es ist ein Versuch der Regierung, von der eigenen Schwäche abzulenken.
D ie Worte des tunesischen Präsidenten Kais Saied vor dem Nationalen Sicherheitsrat, den er am 21. Februar einberufen hatte, waren scharf wie selten. „Gewalt, Verbrechen und inakzeptable Handlungen“ würden von den in Tunesien lebenden Migrant:innen ausgehen. „Horden illegaler Migranten aus afrikanischen Ländern sind auf dem Weg nach Tunesien“, sagte der Präsident. Die vor dem Krieg aus Libyen fliehenden Menschen und westafrikanische Migrant:innen seien „der Versuch fremder Mächte, die tunesische Identität und den Islam“ in der Region zu schwächen“. Die wie versteinert schweigenden Ratsmitglieder wies er an, die illegale Migration umgehend zu stoppen und alle Migrant:innen ohne legalen Aufenthaltsstatus auszuweisen.
Das nordafrikanische Land war danach ein anderes. Mit seiner Rede hat Saied, der 2019 mit überwältigender Mehrheit ins Amt gewählt wurde, eine Welle der Gewalt gegen afrikanische Migrant:innen und Student:innen aus Subsahara ausgelöst – insbesondere in der Hauptstadt Tunis. Nach heftiger Kritik aus Westafrika und dem vorläufigen Rückzug internationaler Finanzinstitutionen ruderte Saied zwar zurück. Doch die Kampagne hatte bereits nachhaltig Schaden angerichtet. Noch immer trauen sich viele Menschen mit dunkler Hautfarbe nicht auf die Straße.
Vor allem in den Vororten Ariana und La Soukra fuhren Mannschaftstransporter der Polizei vor, um die im Zentrum von Tunis als Putzfrauen oder als Servicekräfte arbeitenden Migrant:innen aus Straßenbahnen und Bussen heraus zu verhaften. Nach zwei Tagen saßen bereits mehr als 3.000 Migranten in Abschiebehaft, viele davon mit gültiger Aufenthaltsgenehmigung. Viele der Opfer leben bereits seit Jahren im Land, sie mieten Wohnungen und gehen einer geregelten Arbeit nach. Weil viele junge Tunesier ihr Heimatland verlassen, suchen tunesische Firmen, Restaurants oder Hotels nach Arbeitskräften im Billiglohnbereich.
Migrant:innen, die eine „cart de sejour“, also einen offiziellen Aufenthaltstitel oder eine Identitätskarte der Vereinten Nationen ergattern konnten, wurde nach wenigen Tagen wieder freigelassen. Es sind meist Studenten oder Geschäftsleute aus Guinea, von der Elfenbeinküste oder aus Mali. Sie berichteten von Schlägen, unhygienischen Zuständen und Hunger in den Gefängnissen. Die tunesische Polizei hat wegen inzwischen überfüllter Gefängnisse die Verhaftungen beendet. Doch sind es Nachbarn, Jugendgangs und manchmal sogar Kinder, die ihren Frust über die aktuelle Wirtschaftskrise und die rapide steigenden Preise auf offener Straße an dunkelhäutigen Menschen auslassen.
„Wir haben uns seit der Rede von Kais Saied nicht mehr auf die Straße getraut“, sagt Eric Zewolo aus Liberia. Der 25-Jährige übernachtet seit einigen Tagen vor der Zentrale der Organisation für Migration (IOM) in Tunis. Wie die meisten der geschätzt 25.000 Migrant:innen in Tunesien hatte Zewolo nach dem 21. Februar zuerst seine Arbeit und dann seine Wohnung verloren.
Stets in der Dämmerung schlug er sich mit Freunden über mehrere Tage zu Fuß zum Gebäude der Vereinten Nationen durch. Viele Taxifahrer nahmen aus Angst vor behördlichen Strafen keine dunkelhäutigen Menschen mehr mit. In den sozialen Medien hatte zuvor eine amtliche Notiz die Runde gemacht, die an Straßenbahnhaltestellen angebracht worden war: Menschen ohne „carte de sejour“, die bereits länger als drei Monate im Land sind, dürften nicht mehr mitgenommen werden, hieß es darauf.
Auch das Vermieten von Wohnungen an „Papierlose“, an Migrant:innen ohne Aufenthaltsgenehmigung, ist nun strafbar. Zewolo und mehrere Hundert aus ihren Wohnungen geworfene Migrant:innen leben bei nächtlichen Temperaturen von 10 Grad in Zelten. Schwangere Frauen dürfen die Toiletten des von hohen Metallgittern geschützten Bereichs im Büroviertel Lac1 nutzen. Tunesische und internationale Freiwillige haben eine spontane Hilfsaktion gestartet, die diejenigen mit Lebensmitteln versorgt, die sich noch in ihren Wohnungen verstecken. Auch Mietzahlungen übernehmen die Freiwilligen.
Wie es weitergehen soll, wissen offenbar weder die Behörden noch die Betroffenen. Viele Migrant:innen scheuen die gefährliche Überfahrt mit Schmugglerbooten nach Italien und möchten eigentlich in Tunesien bleiben. „Aber selbst vor dem Gebäude der Vereinten Nationen fühlen wir uns nicht mehr sicher“, sagt Zewolo. „In mehreren Nächten sind Unbekannte vorbeigekommen und haben uns beschimpft.“
Die Afrikanische Union und mehrere Regierungen Westafrikas reagieren empört auf die Behandlung ihrer Bürger:innen. Der Botschafter der Elfenbeinküste sah aufgrund mehrerer schwerverletzter Landsleute die Lage als so ernst an, dass er eine Passagiermaschine charterte. Am Montag wurden die ersten freiwilligen Rückkehrer nach Abidjan, einer Großstadt im Südwesten der Elfenbeinküste, ausgeflogen
Auch tunesische Menschenrechtsorganisationen fordern ein Ende der Gewalt und kritisieren Saied dafür, mit seiner Rede die vorhandenen Vorurteile in Nordafrika gegen Menschen aus der Subsahara in gewaltsamen Hass verwandelt zu haben. Auf der Flaniermeile Avenue du Bourguiba demonstrierten am Wochenende über 1.000 Menschen für die Solidarität mit den „afrikanischen Schwestern und Brüdern“. Auch die größte Gewerkschaft im Land, die UGGT brachte mehrere tausend Anhänger:innen auf die Straße, die den Rücktritt des Präsidenten forderten.
Zwei Wochen nach dieser – selbst für die krisengewohnten Tunesier:innen überraschenden – Eskalation steht Kais Saied im Präsidentenpalast bei einem offiziellen Termin neben seinem Kollegen aus Guinea. Offenbar wollte Omar Sissoko Embalo wissen, was es mit dem „großen Bevölkerungsaustausch“ auf sich hat, der in tunesischen Medien aus dem Umfeld des Präsidenten verbreitet wird.
Sichtlich um Beschwichtigung bemüht, propagiert der als konservativer Nationalist bekannte Saied die Brüderlichkeit zu den Ländern Subsahara-Afrikas. Jeder, der legal im Land sei, könne bleiben, so Saied – die ganze Aufregung sei sowieso nur ein Missverständnis. Allerdings spricht er bei diesem Auftritt ständig von „Afrikanern“, wenn er die Migrant:innen aus Subsahara meint.
Sichtlich erbost sagt Embalo daraufhin: „Auch Sie sind Afrikaner, selbst wenn sie helle Haut haben. An einem Flughafen in Madrid oder Frankreich werden wir beide als Afrikaner identisch behandelt werden.“ Der Ton zwischen den beiden bleibt diplomatisch, eine Lösung für die Migration nach Norden haben beide nicht.
Oft ist es die tunesische Bürokratie, die es vielen Migrant:innen unmöglich macht, einen offiziellen Status zu erlangen. Alle legal im Land lebenden „Afrikaner“ seien willkommen, so der Präsident – und bietet immerhin vereinfachte Regularien für westafrikanische Student:innen an, die wichtig sind für die vielen neu entstandenen, privaten Universitäten in Tunis und in der Hafenstadt Sfax.
Kais überraschenden Antimigrationskurs hatte die bisher unbekannte Nationale Partei Tunesiens, ein Projekt im Wesentlichen von drei konservativen Aktivisten, medial vorbereitet. Viele Tunesier:innen hörten zunächst nicht richtig hin: Sie werteten die Kampagne der Nationalen als populistisches Ablenkungsmanöver von der sich zuspitzenden Wirtschaftskrise im Land. Doch mit Saieds Rede wurde dieses Thema allabendlich in allen Talkshows diskutiert.
Gegen die Wirtschaftskrise findet der Präsident indes kein Mittel. In Wutreden wettert er gegen die grassierende Korruption, konkrete Reformen blieben bisher aus. Die von Saied eigenmächtig eingesetzte Regierung von Premier Najla Bouden versucht mit einem Kredit des Internationalen Währungsfonds die mittlerweile stark gefährdete Zahlungsfähigkeit Tunesiens zu retten.
Doch statt Reformen und die vom IWF geforderte Einigkeit mit Gewerkschaften, Parteien und Arbeitgeberverband voranzubringen, begann Saied eine Verhaftungswelle gegen Rechtsanwälte, Richter und die moderate Islamistenpartei Ennahda. Die Empörung darüber ist nun seit Beginn der Verhaftungswelle gegen Migrant:innen verstummt. In ärmeren Vororten von Tunis oder Sfax, wo junge Tunesier:innen die Migrant:innen als Konkurrenz im Kampf um Jobs begreifen, erntet Saied für das harte Durchgreifen gegen die angeblich durch die Migrant:innen gestiegene Kriminalitätsrate Beifall.
International könnte der Kurs das einzige tatsächlich demokratisch regierte und freie Land der Region isolieren. Am Montag legte die Weltbank ihre Verhandlungen mit Tunesien vorerst auf Eis. Ein dringend benötigter Kredit des Internationalen Währungsfonds verzögert sich möglicherweise. Saied entließ am Mittwoch sämtliche vor zwei Jahren gewählten Bürgermeister und Gemeindevertretungen und will sie durch von ihm bestimmte Kommissionen ersetzen.
La Soukra, der migrantisch geprägte Vorort von Tunis: Wenn Christine Bela in der Straßenbahn sitzt, schaut sie am liebsten stur geradeaus. Die 32-jährige Friseurin aus der Elfenbeinküste fährt an sechs Tagen in der Woche von La Soukra in das Zentrum von Tunis. In den stets überfüllten Waggons ist die Stimmung oft zum Zerreißen gespannt. „Den Ärger vieler Tunesier über die jede Woche steigenden Preise und die sinkenden Löhne bekomme ich als Frau mit dunkler Hautfarbe in Form von Rassismus direkt zu spüren“, sagt sie. Kritische Blicke oder verächtliche Bemerkungen hätten in den vier Jahren, die sie nun in Tunesien lebe, stark zugenommen.
Bela ist eine von mehr als 10.000 Menschen aus Westafrika, die mittlerweile nach Schätzungen von Nichtregierungsorganisationen in Tunis leben. Nur wenige von ihnen besitzen einen legalen Aufenthaltsstatus, haben einen Arbeitsvertrag oder eine Krankenversicherung. Bela ist eine „sans papier“, eine Arbeitsmigrantin, die in keiner Statistik des tunesischen Staates auftaucht und die keine Rechte hat.
Zusammen mit ihrem Freund François und dem gemeinsamen Sohn Prince wohnt die zierliche Frau in einer Zweizimmerwohnung. Während sich François als Spezialist für die Wartung von Klimaanlagen durchschlägt, arbeitet Christine als Putzfrau und Kindermädchen bei einer tunesischen Familie. Von ihren umgerechnet rund 400 Euro Monatseinkommen kann sich das Paar sogar einen Kindergartenplatz leisten.
„Hätten wir eine offizielle Arbeitserlaubnis, könnte ich ruhig schlafen. Erst einmal denke ich aber nur an den Flug nach Abidjan im übernächsten Jahr“, sagt Bela. Denn in der Elfenbeinküste hat sie ihre 16-jährige Tochter Stella und zwei Söhne zurückgelassen. Nachdem ihr Mann an Nierenversagen gestorben war, konnte sie ihre Kinder als alleinerziehende Mutter nicht mehr ernähren. „Mit meinem Restaurant habe ich wegen der Wirtschaftskrise in Westafrika zuletzt kaum mehr als 100 Euro im Monat verdient.“
In ihrer Heimat Elfenbeinküste war Bela Friseurin und Köchin. Nach ihrer Flucht nach Tunis ist sie in den Augen des tunesischen Staats reduziert auf ihren Status: „sans papiers“.
Wenn Bela über ihr ehemaliges Mittagsrestaurant in Abidjan spricht, leuchten ihre Augen. Sie habe westafrikanische Gerichte gekocht und Kunden die Haare geschnitten, damit habe sie bis zum Tod ihres Mannes ein gutes Auskommen gehabt. „Doch sich als Frau in einer patriarchalischen Gesellschaft allein durchzusetzen ist fast unmöglich, deshalb habe ich das Angebot meines Cousins schweren Herzens angenommen und kam nach Tunis.“
Was zunächst wie das Hilfsangebot eines engen Verwandten aussah, entpuppte sich als Geschäftsmodell, das in ähnlicher Form mehrere zehntausende Westafrikaner:innen wie Bela nach Nordafrika lockte. Denn nach Tunesien und Marokko ist die visafreie Einreise aus vielen afrikanischen Ländern möglich. „Mein Cousin versprach, dass ich pro Monat mindestens 800 Euro verdienen und 500 Euro für die Ausbildung meiner Kinder in die Elfenbeinküste schicken könne“, erzählt sie.
Nachdem sie die 3.000 Euro für das Flugticket aufgebracht hatte und eine Anstellung als Putzfrau bei einer Familie in Tunis sicher hatte, sei sie schweren Herzens losgeflogen, erzählt sie. Ihre Kinder brachte sie bei der Familie ihrer Schwester unter. Am Flughafen Tunis-Karthago habe sie ein Mann aus der Elfenbeinküste abgeholt – der gleich ihren Reisepass einkassiert habe. Der Schlepper hatte Belas Cousin wohl als seinen Vermittler angestellt und zahlt ihm bis heute eine Erfolgsprämie für jede ankommende Reisende. Den Lohn für Belas Arbeit strich er fast 18 Monate lang selbst ein, so berichtet sie selbst es.
„Mir war klar, dass ich in den Fängen einer Schlepperorganisation landen würde, die überhöhte Vermittlungsgebühren einfordert“, sagt Bela. „Ich hätte aber nicht gedacht, wie eine Sklavin behandelt zu werden.“
Nach Europa weiterreisen wolle sie dennoch nicht, sagt sie mit Tränen in den Augen. Im Dezember 2022 hatte ihre jüngste Cousine versucht, von der tunesischen Hafenstadt Sfax aus auf einem Fischerboot in das italienische Lampedusa zu gelangen. Über 60 Menschen aus Guinea, der Elfenbeinküste und Ghana waren an Bord des Schlauchboots, das von einem der Strände der 200 Kilometer südlich von Tunis gelegenen Hafenstadt ablegte.
Der Tag der Abreise sollte zu einem der schwärzesten Tage auf dem Mittelmeer in diesem Winter werden. Die Schmuggler an der libyschen und tunesischen Küste versuchten ihre Kunden noch vor dem angekündigten Wintersturm nach Lampedusa und Sizilien zu bringen. Doch der Wellengang war bereits so hoch, dass selbst die zwischen Italien und Tunis pendelnden Autofähren in den Häfen blieben. Christine Belas Cousine wurde als eine von mehr als 130 offiziell bekannt gewordenen Todesopfern an Land gespült. Das Schlauchboot war nur wenige Kilometer von der italienischen Küste entfernt gekentert.
In Sfax, rund 300 Kilometer südlich der Hauptstadt, sammeln sich unterdessen immer mehr Migrant:inn, die sich eine Rückreise in ihre Heimat nicht leisten können oder die noch hoffen, in Tunesien bleiben zu können. Birikhabosse Camera, ein drahtiger Mann aus Guinea, ist mit vielen Landsleuten in Kontakt, denen Tunis zu unsicher geworden ist. „In Sfax funktioniert das Zusammenleben zwischen den vor dem Krieg im Tripolis geflohenen Libyern, Migrant:innengemeinden aus verschiedenen Ländern und ihren tunesischen Nachbarn besser“, sagt er.
Zusammen mit dem tunesischen Aktivisten Omar Ben Amor versucht Camera, junge Leute aus fast zehn Ländern zusammenzubringen. „Als Vermittler von westafrikanischen Fußballspielern an tunesische und europäische Clubs komme ich gut über die Runden“, sagt Camera. „Europa darf seine Probleme hier nicht abladen“, sagt sein Kollege Ben Amor. Statt der geforderten Auffanglager in Tunesien brauche es eine Reform des Aufenthalts- und Asylrechts.
Täglich treffen die beiden auf Migrant:innen, die sich einen Platz auf einem Boot nach Lampedusa sichern wollen, sagen sie. „Weil jede Woche die man im Land ist, bisher zwar akzeptiert wird, aber eine Strafgebühr kostet“, klagt Camera. Nach sechs Jahren in Sfax müsse er bei legaler Ausreise über 4.000 Euro zahlen, das sei mehr, als das Ticket für ein Boot nach Europa kostet, rechnet er vor. Bei ihren regelmäßigen Treffen auf einem Fußballplatz in Sfax informieren Ben Amor und Camera Jugendliche über die Rechtslage im Land.
Christine Bela ist nach den Treffen mit der taz vor wenigen Tagen in ihre Heimat zurückgeflogen. „Ich habe gerne in Tunesien gelebt. Ich weiß nicht, was in die Leute gefahren ist“, sagt sie. „Wir teilen doch die gleichen Probleme.“
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