Mieterschutz in New York: Wenn zum Wohnen nichts mehr bleibt
Ein Viertel zahlt nicht mehr die volle Miete. Bislang waren die New YorkerInnen in ihren Wohnungen trotzdem halbwegs geschützt. Das ändert sich bald.
Inzwischen haben sich fast 4,5 Millionen Menschen im Land mit dem Virus infiziert, mehr als 150.000 sind an den Folgen gestorben, und über 50 Millionen haben sich wegen der Pandemie arbeitslos gemeldet. Allein in der letzten Woche sind 1,43 Millionen neue Arbeitslose hinzugekommen. Das sind mehr Menschen als in den schlechtesten Momenten der Großen Depression der 1930er Jahre.
Empfohlener externer Inhalt
Das Wort „Mietstreik“ prangt jetzt auf Buttons an Hemden und auf Aufklebern an Stoßstangen, in New York, aber auch anderswo im Land. Schon jetzt zahlen 25 Prozent der MieterInnen nicht mehr ihre komplette Miete. Nach Schätzungen des Unternehmens Stout Risius Ross, das New York in Finanzfragen berät, können 46 Prozent der MieterInnen in der Stadt in absehbarer Zeit nicht mehr zahlen.
Essen oder Miete
„Ich muss mich zwischen Essen und Miete entscheiden“, sagt eine junge Frau vor dem Wohnungsgericht in Brooklyn, „beides geht nicht.“ Das Gericht hatte nach der pandemiebedingten Schließung bereits im Juni wieder mit Mietrechteprozessen begonnen.
Doch noch bis zum 20. August gilt ein Moratorium, das die meisten New Yorker MieterInnen vor Räumungen schützt. Gouverneur Andrew Cuomo hatte es verhängt. Der Demokrat, jahrelang ein verlässlicher Partner der New Yorker Immobilienlobby, musste unter dem vereinten Druck von Pandemieopfern und neuen Linken, die 2018 in den Senat des Bundesstaates eingezogen waren, nachgeben und vorübergehend ein zusätzliches Stück Mieterschutz schaffen.
Cuomo hat das Ultimatum bereits zum dritten Mal verlängert. Es bedeutet, dass MieterInnen, die wegen der Pandemie ihre Einnahmen verloren haben und nicht zahlen können, vorerst nicht auf die Straße gesetzt werden dürfen. Doch ihre Mietzahlungen sind lediglich verschoben. Manche New Yorker sitzen schon jetzt auf Mietschulden von mehr als 10.000 Dollar, die sie bezahlen müssen, wenn sie nach Ablauf des Moratoriums nicht geräumt werden wollen.
New York ist eine Mieterstadt – im Gegensatz zu den Städten von WohnungseigentümerInnen anderswo im Land: mit 1,2 Millionen MieterInnen und mit einigen der einflussreichsten ImmobilienbesitzerInnen des Landes. Das Angebot an Wohnraum war geringer als die Nachfrage, sie trieben die Mieten immer höher. Seit Anfang des Jahrtausends stiegen die Mieten in New York City um mehr als 30 Prozent, während gleichzeitig die Löhne – zumindest am unteren Rand – stagnierten.
Pandemie-Hilfe läuft aus
An diesem 1. August verschärft sich die Lage von MieterInnen in New York und im Rest des Landes noch einmal. Am Freitag sind die vorübergehenden finanziellen Hilfen, die der US-Kongress im März im Rahmes des Cares-Gesetzes für Opfer der Pandemie bewilligt hatte, ausgelaufen. Die wichtigste davon: 600 Dollar pro Woche, um die magere Arbeitslosenunterstützung von durchschnittlich 333 Dollar pro Woche aufzustocken.
Das mehrheitlich demokratische Repräsentantenhaus hatte schon im Mai ein neues Hilfspaket geschnürt. Es würde die Hilfen verlängern und zusätzliche Leistungen – darunter auch einen bundesweiten Mieterschutz vor Räumungen – einführen. Aber der mehrheitlich republikanische Senat konnte sich 73 Tage lang nicht entscheiden. Erst in dieser Woche legte er eine radikal geschrumpfte, eigene Version für neue Hilfen vor.
Diese würde unter anderem bedeuten, dass die Zusatzleistungen für Arbeitslose auf nur noch 200 Dollar pro Woche reduziert werden. Wenige Wochen später sollen die pauschalen Zusatzleistungen zum Arbeitslosengeld komplett auslaufen. Die Republikaner wollen den Arbeitslosen dann nur noch 70 Prozent ihres letzten Lohns gewähren. Für die große Zahl der Corona-Arbeitslosen, die zuvor in der Gastronomie und im Einzelhandel für den Mindestlohn gearbeitet haben, bedeutet das den Absturz in die Armut.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Das Paket der Demokraten im Repräsentantenhaus würde 3 Billionen Dollar kosten, das der Republikaner im Senat 1 Billion.
Im Augenblick gibt es kaum freie Stellen auf dem Arbeitsmarkt. Und als Folge der täglich mehr als 65.000 Neuinfektionen in den USA werden es immer weniger. Zahlreiche Unternehmen haben bereits zum zweiten Mal geschlossen und ihre Beschäftigten erneut in die Arbeitslosigkeit entlassen.
Kein Verständnis für die Sorgen der MieterInnen
Doch der republikanische Chef des Senats, Mitch McConnell, ist etwa der Ansicht, dass 600 Dollar pro Woche Arbeitslose davon abhielten, auf den Arbeitsmarkt zurückzukehren. Verständnis für die Sorgen von MieterInnen ohne Einkommen zeigen die Republikaner nicht.
Ihre Regierung in Washington besteht mitunter aus Leuten, die mit Immobilienspekulationen zu Geld gekommen sind; von Präsident Donald Trump über Schwiegersohn Jared Kushner bis hin zu Finanzminister Steven Mnuchin, der sich nach der Rezession von 2008 an der Spitze der Bank OneWest auf Zwangsräumungen spezialisierte.
Heidi Shierholz, Ökonomin beim Economic Policy Institute, nennt die Streichung der 600 Dollar einen „schrecklichen Fehler“, der nicht nur die Arbeitslosen treffen würde, sondern auch ihr Umfeld. „Mindestens fünf Millionen Arbeitsplätze quer durch die USA hängen von dieser Konjunkturhilfe ab“, warnt sie.
Eine Miete in New York werden nach den Kürzungen der staatlichen Finanzhilfen noch weniger Arbeitslose zahlen können. Sowohl in Sozialwohnungen als auch auf dem „freien“ Markt sind die Mieten in New York höher als anderswo. Eine durchschnittliche New Yorker Wohnungsmiete liegt nach Zahlen von ImmobilienmaklerInnen in diesem Sommer bei 3.392 Dollar, 3,51 Prozent weniger als im vergangenen.
Jeder Fünfte räumungsbedroht
Für die rund 110 Millionen MieterInnen in den USA werden die kommenden Monate grausam. Sam Gilman vom „Covid-19 Eviction Defense Project“ hält mehr als 20 Prozent aller MieterInnen in den USA für räumungsgefährdet. Der Thinktank Aspen Institut schätzt, dass im September, wenn ein Bundesstaat nach dem anderen seinen Räumungsschutz aufheben wird, 23 Millionen Menschen im Land aus ihren Wohnungen und Häusern geräumt werden könnten. In Kalifornien könnten bis zu vier Millionen Menschen ihre Bleibe verlieren, in Texas zwei Millionen, und in Florida und New York jeweils 1,5 Millionen.
Viele MieterInnen in den USA und insbesondere an teuren Standorten wie New York, San Francisco und Seattle zahlten schon vor der Pandemie ruinös hohe Mieten, die mehr als 30 Prozent ihres Einkommens verschlangen. Mit der drohenden Zwangsräumung wird für die meisten von ihnen eine Spirale nach unten beginnen, in der Kinder ihre Schule und Erwachsene ihr soziales Umfeld verlieren. Und in deren Folge auch die Bonität verloren geht, ohne die es in den USA schwer ist, überhaupt eine neue Wohnung zu bekommen.
Die Minderheiten – insbesondere AfroamerikanerInnen und Latinos – sind wie schon bei der Ansteckung mit dem Coronavirus und bei der Polizeigewalt auch von Arbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit überproportional betroffen.
Im Oktober endet außerdem die wegen der Pandemie bewilligte Pause bei den Rückzahlungen für Studienschulden. Die betroffenen 45 Millionen Menschen müssen dann wieder zahlen – auch wenn sie weiterhin arbeitslos sein sollten.
Einen schnellen Rückgang der Arbeitslosigkeit erwartet niemand. Sowohl die Federal Reserve als auch die Privatbanken gehen davon aus, dass die Arbeitslosenzahlen zumindest im nächsten Jahr im zweistelligen Bereich bleiben werden.
Auch die HausbesitzerInnen zeigen sich wenig kooperativ. Der Sprecher der Vereinigung droht sowohl MieterInnen als auch PolitikerInnen, dass der Rückgang von Mieteinnahmen zu Verwahrlosung von Wohnraum und zum Wegfall von Steuern führen wird.
Der erste „Mietstreik“ seit Jahrzehnten gibt manchen die Hoffnung, dass sie weitere Gesetze zum Mieterschutz schaffen können. Mehrere junge Linke im Senat in Albany sind nach Kampagnen gegen die Immobilienspekulation und die Immobilienlobby in New York gewählt worden. Sie schlagen jetzt vor, dass die Banken die Verluste ausgleichen sollen, die durch den Ausfall von Mieten und den Wegfall von Steuern entstehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles