Menschenrechtsaktivistin über Belarus: „Der Winter steht vor der Tür“
Machthaber Lukaschenko will Europa unter Druck setzen. Und setzt zur Eskalation Flüchtende ein. Eine moralische Antwort fällt da schwer, sagt Exilantin Olga Karatsch.
taz: Frau Karatsch, Tausende Geflüchtete, die durch Belarus an die Grenze zu Polen laufen. Was waren Ihre Gedanken als Menschenrechtsaktivistin, als Sie die Bilder gesehen haben?
Olga Karatsch: Wir wussten davon schon länger. Schon vor zwei bis drei Monaten haben die belarussischen Sicherheitskräfte über ihre Kanäle kommuniziert, dass Alexander Lukaschenko einige Tausend Geflüchtete an die Grenze schicken wird, um diese zu stürmen. Unklar war nur, an welche Grenze. Deshalb haben wir das erwartet und auch Partnerorganisationen vorab darüber informiert.
42 Jahre alt, stammt aus Witebsk in Belarus. Seit 2014 ist die Menschenrechtsaktivistin für die NGO Nasch Dom (Unser Haus) aktiv. Seit 2020 lebt sie in Litauens Hauptstadt Vilnius im Exil.
Welches Ziel verfolgt Lukaschenko?
Lukaschenko hat sich bewusst dafür entschieden, den Konflikt mit der Europäischen Union zu eskalieren. Denn er steht heute vor folgender Wahl: Er ist eingeklemmt zwischen dem belarussischen Volk, das ihn hasst, und Russlands Präsident Wladimir Putin. Der hat einen Plan für die Annexion von Belarus, aber keinen Plan für Lukaschenko. Denn es ist klar, dass sich Putin zu gegebener Zeit Lukaschenko entledigen wird.
Daher versucht Lukaschenko aus dieser Lage herauszukommen, indem er den Konflikt mit Europa anheizt, um vor allem Deutschland dazu zu zwingen, sich mit ihm an den Verhandlungstisch zu setzen – allerdings zu seinen Bedingungen.
Was heißt zu seinen Bedingungen?
Das heißt: Deutschland verschließt die Augen vor dem Terror und den Menschenrechtsverletzungen in Belarus. Deutschland erkennt ihn als Präsidenten an und leistet finanzielle Hilfe, um der wirtschaftlichen Krise zu begegnen. Übrigens glaube ich, dass sich dieser Angriff vor allem gegen Deutschland richtet. Polen und Litauen sind eher Instrumente, um Druck auszuüben.
Nehmen wir an, Lukaschenko scheitert mit seinem Plan. Wie geht es dann weiter?
Mehr Geschichten über das Leben in Belarus: In der Kolumne „Notizen aus Belarus“ berichten Janka Belarus und Olga Deksnis über stürmische Zeiten – auf Deutsch und auf Russisch.
Es wird weitere Versuche geben, die Grenze zu stürmen. Das bringt polnische und litauische Grenzschützer in eine heikle Situation. Sollen sie schießen oder nicht? Die Grenzen sind nicht so stark gesichert, um die Geflüchteten aufhalten zu können. Zwar reden wir hier von belarussischen Spezialoperationen, doch der zweite Organisator ist Putin. Ihm sind beide Szenarien recht. Vor allem, nachdem die beiden Staaten eine gemeinsame Militärdoktrin unterzeichnet haben. (Vergangene Woche unterzeichneten Putin und Lukaschenko einen Fahrplan, der den wirtschaftlichen und militärischen Zusammenschluss beider Staaten vorantreiben soll. Anm. d. Red.) Angesichts der Lage an der Grenze dürfte er versuchen, die belarussischen Sicherheitsstrukturen unter Kontrolle zu bekommen.
Das heißt: seine eigenen Leute nach Belarus und auch an die Grenze zu schicken. Vielleicht sind sie auch schon da, wir wissen das nicht so genau.
Wie sollte der Westen denn jetzt reagieren?
Wir müssen uns eins klar machen: Das Hauptproblem sind nicht die Geflüchteten, sondern das Regime Lukaschenko, das alles organisiert. Die Geflüchteten sind nur eine Folge davon. Wenn es nicht mehr um sie geht, werden sich andere Druckmittel finden lassen. Weder Lukaschenko wird aufhören, noch Putin. Was der Westen tun soll, ist moralisch schwer zu beantworten. Die Geflüchteten durchlassen? Das hieße: Heute sind es 5.000, morgen werden es 15.000 sein. Dann werden nicht 40 Maschinen aus Damaskus, Irak und der Türkei wöchentlich in Minsk landen, sondern weitaus mehr.
Aber was dann?
Auf jeden Fall muss die Versorgung der Geflüchteten mit humanitärer Hilfe sichergestellt werden. Der Winter steht vor der Tür und es gab mindestens sieben Tote. Ich als Menschenrechtsaktivistin würde sagen: keinesfalls Gewalt anwenden, sondern die Geflüchteten durchlassen, zu 100 Prozent. Gleichzeitig wächst jedoch die Gefahr, Länder wie Polen, Litauen und Lettland weiter zu destabilisieren. Das ist ein echtes Dilemma.
Diese Woche empfängt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die belarussische Oppositionspolitikerin Swetlana Tichanowskaja in Berlin. Was erwarten Sie von dem Treffen?
Sie und ich, wir verfolgen komplett unterschiedliche Ansätze. Tichanowskaja setzt jetzt auf Verhandlungen mit Lukaschenko, bei denen Putin als eine Art Mediator auftreten soll. Das ist die Botschaft, die Tichanowskaja überall verbreitet. Und das wird sie auch bei diesem Treffen wieder tun.
Meine Position hingegen ist: Angesichts einer drohenden Vereinigung von Russland mit Belarus darf nicht mit Putin verhandelt werden. Und mit Lukaschenko erst recht nicht. Ich sage: Mit Terroristen verhandelt man nicht, und ich möchte an Folgendes erinnern. Alles, was Lukaschenko heute tut, ist auch eine Folge dessen, dass man 27 Jahre lang versucht hat, sich mit ihm zu verständigen.
Er weiß nur zu gut, dass er in jedem Augenblick ein Angebot für einen Dialog machen kann. An den grundsätzlichen Strukturen ändert das jedoch gar nichts. Und wie wir jetzt sehen: Solange dieses Regime in Minsk existiert, wird auch die Sicherheit in der gesamten Region massiv bedroht sein.
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