Medico-Vertreter über Nahost-Konflikt: „Es geht nicht darum, wer anfing“
Israel hat die Macht, die Gewaltspirale zu durchbrechen. Auf palästinensischer Seite hat die niemand, sagt Riad Othman von Medico International.
taz: Herr Othman, Sie stehen im ständigen Kontakt mit den Bewohnern aus Gaza: Wie ist die Lage?
Riad Othman: Die Situation ist verzweifelt, die Leute trauen sich kaum noch auf die Straße. Überall versucht man, humanitäre Hilfe, auch für die etwa 500.000 Binnenvertriebenen, zu organisieren.
Was kann Medico tun?
Wir unterstützen Palestinian Medical Relief Society (PMRS) bei der postoperativen Nachsorge von Verletzten. Häufig mussten Patienten die großen Krankenhäuser wegen Überfüllung frühzeitig verlassen.
Wie viele Menschen konnten sie damit erreichen?
Es gibt keine genauen Zahlen. PMRS sorgt dafür, dass 31.200 in 13 Notunterkünften Zugang zu primärer medizinischer Versorgung haben. Aus Sicherheitsgründen mussten bis auf zwei alle Gesundheitszentren geschlossen werden.
Letztes Wochenende kam es in der Stadt Rafah zu einem „Massaker“, wie es in der Ha’aretz heißt: 120 Palästinenser wurden getötet, etwa 500 verletzt, zudem wurde eine UN-Schule beschossen.
Dieses Massaker fügt sich ein in das Grauen, das die Menschen in Gaza in den letzten drei Wochen erleben mussten. Die Israelische Armee (IDF) hat 36 Stunden nach der ersten Bombardierung verkündet, dass sie bereits mehr Bomben auf Gaza abgeworfen habe als in den acht Tagen des Angriffs vom November 2012. Niemand ist sicher, egal wo er sich aufhält.
ist Repräsentant der Hilfs- und Menschenrechtsorganisation medico international in Palästina und Israel mit Hauptsitz in Ramallah. Davor koordinierte er für drei Jahre die medico-Nothilfe.
Das offizielle Kriegsziel der Regierung und der IDF war die Zerstörung nicht nur der Tunnel, sondern auch der Hamas, nach dem Motto: Feuert ihr Raketen auf uns ab, zerschlagen wir euch. Wurde die Lektion gelernt?
Wer sollte diese lernen? 40 Prozent der Gazabewohner sind 15 Jahre alt oder jünger. Sie haben die Hamas weder gewählt noch etwas mit dem Raketenbeschuss auf Israel zu tun. Doch sie sehen jetzt, dass fast jede Stadt in Schutt und Asche liegt. Das wird zu einer Radikalisierung führen. Und: Wer käme nach der Hamas?
Viele gehen davon aus, dass das Vakuum von noch radikaleren Gruppen gefüllt werden könnte.
Das ist eine reelle Gefahr. Mittlerweile hat der israelische Polizeisprecher Mikey Rosenfeld eingeräumt, dass es sich bei den Entführern der drei israelischen Jugendlichen im Westjordanland um zwei kriminelle Palästinenser handelte, die keinen Auftrag von der Hamas hatten. Erstaunlicherweise hat die Hamas zunächst auf die Verhaftung von Hunderten ihrer Mitgliedern als kollektive Vergeltungsaktion deeskalierend reagiert und keine Raketen abgeschossen. Offenbar wollte sie die Bildung einer Einheitsregierung mit der Fatah nicht gefährden. Genau diese aber wollte die Netanjahu-Regierung unbedingt verhindern.
Später wurden jedoch Raketen auf Israel abgeschossen.
Die jedoch gingen vor allem auf das Konto der PFLP (Popular Front for the Liberation of Palestine) und des Dschihad. In einem so asymmetrischen Konflikt wie zwischen Palästinensern und Israel geht es nicht darum, wer diesmal angefangen hat …
… sondern?
… wer die Macht hat, die Gewaltspirale zu durchbrechen. Die israelische Regierung und das Militär haben einen viel größeren Handlungsspielraum.
Außenminister Steinmeier hat jüngst vorgeschlagen, Grenzübergänge unter internationaler Kontrolle, etwa der EU-Grenzmission Eubam, zu öffnen. Ist das realistisch?
Schwer zu sagen. In jedem Fall dürfte es nicht um die Grenzübergänge nach Ägypten gehen, sondern es müssten Zugänge zum Westjordanland geöffnet werden und auch Übergänge nach Israel. Denn dort liegen die Absatzmärkte und dort leben die meisten Verwandten, nicht im Sinai.
Dass Israel Zugänge zu sich öffnen wird, scheint unwahrscheinlich. Können EU und USA moderierend einwirken?
Zur Diplomatie hinter den Kulissen kann ich nichts sagen. Aber es ist sicher nicht hilfreich, die zivilen Opfer zu bedauern und gleichzeitig weitere Waffenlieferungen an Israel sicherzustellen.
Wird es zu einer dritten Intifada kommen?
Eher nicht. Die Palästinenser im Westjordanland hätten mehr Großproteste organisieren müssen. Die einen sprechen von 10.000 Leuten, die auf den Checkpoint Kalandia marschierten, andere von 25.000. Das reicht nicht. Trotzdem kommt es im Westjordanland fast jeden Abend zu Zusammenstößen zwischen Palästinensern und israelischen Sicherheitskräften. Während der ersten Tage des Gazakriegs wurden 10 Palästinenser erschossen. Aber es fehlt die politische Führung, die diese Proteste bündeln würde.
Woran liegt das?
Die Fragmentierung des Westjordanlands aufgrund der Mauer, der Checkpoints und des Siedlungsbaus funktioniert gut. Ohne Not reisen Palästinenser kaum noch. Nehmen Sie die Blase im relativ privilegierten Ramallah. Viele hier waren noch nie im Jordantal. Um die Leute aus den „A-Gebieten“ politisch zu mobilisieren, bräuchte es eine starke Führung.
Wer könnte diese übernehmen?
Ein Kandidat ist Marwam Barghouti. Doch er sitzt seit 2002 in einem israelischen Gefängnis.
Wie lässt sich der asymmetrische Krieg zwischen Palästinensern und Israel beenden?
Die Frage ist: Was würde Israel gewinnen, wenn es sich aus dem Westjordanland zurückzöge? Was kann die pälastinensische Führung anbieten? Da schon so viel Land besetzt wurde, haben die Palästinenser nichts mehr anzubieten. Angesichts dieses krassen Ungleichgewichts können Friedensverhandlungen nur scheitern.
Wie wäre ein Ausgleich zu schaffen?
Hauptgrund für die Armut im Westjordanland sowie für die Verkrüppelung der palästinensischen Wirtschaft insgesamt ist die israelische Besatzung. Wer Frieden möchte, muss Frieden auch anbieten. Dazu war die israelische Regierung in den letzten Jahren nicht bereit. Gleichzeitig haben die europäischen und nordamerikanischen Steuerzahler die Besatzung mit finanziert. Müssten die Israelis allein dafür aufkommen, dürfte die Autonomiebehörde absehbar kollabieren. Das wäre ein erster richtiger Schritt. Er würde die Möglichkeit eines palästinensischen Staates wieder auf die Agenda setzen.
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