#MeToo in Film- und Theaterwelt: Ein strukturelles Problem
Die Vertrauensstelle „Themis“ zieht nach anderthalb Jahren Bilanz: Bisher wurden 255 Fälle sexueller Belästigung bei Kreativ-Arbeit gemeldet.
Machtgefälle“ steht dort in gefetteten Lettern, gefolgt von den immer kleiner werdenen Worten: „Abhängigkeitsverhältnis“, „Räumliche Nähe“, „Ungeschriebene Gesetze“, und „Körper als Werkzeug“: Eine sogenannte Themenwolke aus Begriffen soll die Besonderheiten der Film- und Fernsehbranche spiegeln. Die Schrift ist desto größer, je öfter oft sie genannt wurden.
Gesammelt wurden diese unmissverständlichen Sprachbilder von „Themis“, der „Vertrauensstelle gegen sexuelle Belästigung und Gewalt“, die im Oktober 2018 im Zuge der #MeToo-Bewegung gegründet wurde und sich als interdisziplinäre Beratungseinrichtung für die Kreativwirtschaft versteht. Betroffene aus der Film-, Fernseh- oder Theaterbranche können sich an Themis wenden. Nach anderthalb Jahren Arbeit hat Themis vor zwei Wochen mit dieser „qualitativen Interviewstudie“ die erste große Auswertung vorgelegt.
Der gut 50-seitige Evaluationsbericht, dem 16 Interviews zugrunde liegen, liest sich teilweise wie bewusster Seelenstrip: „Wenn ich in diesem besonderen Zustand beim Spielen bin“, sagt ein*e Gesprächsteilnehmer*in, „sind meine Grenzen anders als wenn ich jetzt hier auf dem Stuhl sitze. Man ist aufgefordert, man fordert sich ja selber auch auf, in so einem Moment offen zu sein.“ Es geht um den Wunsch an den oder die Schauspieler*in, sich verwundbar zu zeigen – ohne eine emotionale Nähe zur Figur kann und will kaum ein*e Schauspieler*in arbeiten. Die Gefahren stecken also im System, vielleicht sogar im Job selbst.
Die Studie nennt sämtliche Pferdefüße der Branche, von der „Herausforderung Körperlichkeit“ – einem Thema, das auch in jedem ärztlichen und Pflegeberuf auftritt, nur in viel eindeutiger definierten Rollen, über „unsichere Arbeitsbedingungen“, also befristete Verträge, große Konkurrenz, geringe Entlohnung, bis hin zum dicksten Pferdefuß: Das Thema „Gender und ungleiche Geschlechterverhältnisse wurde als zentral in der Zusammenarbeit, bei Entscheidungsprozessen und insbesondere bei der Besetzung von Positionen in der Film-, Fernseh- und Bühnenbranche genannt“, so die Studienmacher*innen. Sie erwähnen „sexualisierte Berührungen ohne Konsens“, die Beispiele dazu stammen größtenteils von Frauen, die über Männer reden. „Genderverhältnisse“ ist das am fettesten gedruckte Wort der Themenwolke.
Drehstopps und Jobunsicherheiten
All diese Dinge wurden jedoch abgefragt, bevor sich das Coronavirus in Deutschland stark ausbreitete. Wie die momentanen immer noch fast überall herrschenden Drehstopps und die wachsende Jobunsicherheit sich auf die Situation von weiblichen Branchenmitgliedern auswirken, konnte dabei noch nicht berücksichtigt werden. „Unsere Beobachtung ist“, sagt Eva Hubert aus dem Themis-Vorstand dazu, „dass sexuelle Übergriffe in beinahe allen Fällen schlicht Machtmissbrauch darstellen. Zukunftsängste und drohende Arbeitslosigkeit verschärfen Machtverhältnisse. Insofern müssen wir darauf achten, dass diese Ängste in der Zeit nach Corona nicht ausgenutzt werden und sich Ausbeutungsmuster nicht manifestieren.“ Die Erkenntnis müsse sich durchsetzen, dass auf die schwächeren und machtlosen Mitarbeiter*Innen besonders geachtet werden muss, dass sie explizit gefördert und gestärkt werden.
Die auf die Medienbranche spezialisierte Berliner Consultingagentur „Langer Media“ hatte im April eine Onlineumfrage zur aktuellen Krise gestartet. Fast 5.000 Film- und Fernsehschaffende haben bis Ende April mitgemacht, davon knapp 42 Prozent Frauen. Bei der Erhebung ging es um die „Wirksamkeit der Soforthilfemaßnahmen“ – heraus kam, wenig überraschend, dass über 92 Prozent der Befragten negative oder „sehr negative“ Auswirkungen der Coronakrise auf ihre Arbeitssituation erwarten.
Und das in einem Umfeld mit „besonders atavistischen Machtstrukturen“, wie der Autor Thierry Chervel vor zwei Jahren in einem Essay in der Welt der gebeutelten Branche attestierte. Sie sei „eine Art Feudalismus mit Ius primae noctis [Recht der ersten Nacht]. Kann es sein“, schrieb er weiter, „dass ein Chef eines wirklich modernen Unternehmens sich noch aufführen würde wie Harvey Weinstein und Positionen nach sexueller Fügsamkeit vergibt?“. Und er fragte: „Wo sonst – außer in Armeen und der katholischen Kirche – gibt es noch derart lineare und unkontrollierte Hierarchien wie in Theatern, Opern, Orchestern und im Kino?“
Nun mögen beide Texte, der von Themis und der von Chervel, mit dem damals frischen Weinstein-Skandal zusammenhängen. Doch die Krise wird die „unkontrollierten Hierarchien“ kaum in Luft auflösen. Mit der Verurteilung des Hollywoodmoguls am 11. März dieses Jahres, kurz bevor das Virus schon in der Ferne sichtbar wurde, ist zu befürchten, dass das bei vielen mühsam geweckte Bewusstsein für diese Themen wieder schwindet: In der Krise geht es schließlich nicht nur den Frauen schlecht. Überhaupt sollte eine Gesellschaft doch eher auf Solidarität bauen, als auf Trennung nach Gender (oder Alter, oder Berufssituation).
Die Täter sind fast alle Männer
Dennoch darf nicht vergessen werden, was die Themis-Studie offenbart: Bis Ende März wurden unter der Berliner Telefonnummer 255 Fälle von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz gemeldet, von verbalen Belästigungen bis hin zu Vergewaltigungen. Die Opfer waren zu 85 Prozent Frauen, die Täter fast alle Männer. Die Branche, die gerade eine der größten Herausforderungen seit ihrem Bestehen zu meistern hat, kann Frauen gleich aus zwei Gründen gefährlich werden: Weit über 80 Prozent der in der aktuellen Filmschaffenden-Umfrage Befragten sind Freiberufler*innen oder nur auf Zeit (während der Produktion eines Films) beschäftigt. Das bedeutet, dass sie durchschnittlich prekärer leben als der Rest. Dass das Prekariat in Deutschland vor allem weiblich ist und größtenteils aus Müttern besteht, hat die Hans-Böckler-Stiftung vor zwei Jahren nachgewiesen.
Der andere Grund ist die schon genannte berufsimmanente Grenzüberschreitung. Da differenziert Hubert aus dem Themis-Vorstand: „Zum einen geht es um den beruflichen Alltag. Da ist schnell eine Drehbuchbesprechung zwischen Regisseur und Schauspielerin abends im privaten Umfeld angesetzt, eine in anderen Arbeitsumgebungen eher irritierende Situation. Hier gilt es, einen Kulturwandel in der Branche herbeizuführen, Grenzen sagbar zu machen.“ Das andere, erklärt sie, seien Überschreitungen bei der Berufsausübung, zum Beispiel bei expliziten Sexszenen. „Das ist einerseits sicher Teil des künstlerischen Ausdrucks von Drehbuch und Regie, dennoch müssen auch diese Szenen im Einzelnen mit den beteiligten Schauspieler*innen ausgehandelt werden.“ Hubert plädiert dafür, „Intimacy Coordinators“ – also eine Art Berater*in für Erotikszenen – als unabhängige und fachkundige Mittler einzusetzen, um in solchen Situationen Machtmissbrauch zu verhindern.
Und auch in Schauspielschulen herrschen oft noch genau diese alten Strukturen, die Hierarchien und missbräuchliche Relationen zwischen älteren Männern auf der Dozentenseite und jungen, unsicheren Frauen auf der Bewerber*innenseite stärken. „Ich kann dir sagen, von welcher Schule eine Schauspielerin stammt, weil ich die Vorlieben der dortigen männlichen Aufnahmeprüfer kenne“, sagt eine Theaterregisseurin.
Das Coronavirus legt momentan viele gewachsene Strukturen in Schutt und Asche. Es hat nicht nur die Kreativbranche zu einem unfreiwilligen Stopp gezwungen. Aber während in anderen Bereichen wie der Gastronomie hoffentlich viele, besser noch alle überleben und weitermachen und die zunehmende Anerkennung der Pflegeberufe sogar zu einer besseren Honorierung führen könnte, muss man die Kunst-Pause unbedingt nutzen, um die Strukturen zu verändern.
Immerhin: Kulturministerin Monika Grütters sieht das genauso. „Wir brauchen einen grundlegenden Kulturwandel in allen Kreativbranchen! Deshalb ist es wichtig, dass sich noch mehr Verbände der Themis anschließen“, zitiert die Pressemitteilung der Beratungsstelle Grütters. Und Eva Hubert weist darauf hin, dass die Arbeit in der Pause weitergeht: „Nach wie vor melden sich täglich Betroffene. Für uns ist es deshalb wichtig, verstärkt Präventionsangebote zu entwickeln.“ Damit die momentane Krise nicht auch noch die Probleme mit sexueller Gewalt verstärkt.
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