Matthias Platzeck über Putins Russland: „So viel Irrationalität“
Stets hat Matthias Platzeck um Verständnis für russische Interessen geworben. Nun hofft der Ex-SPD-Chef, dass Putin durch sein Umfeld irgendwie zur Umkehr gebracht wird.
taz: Herr Platzeck, Sie haben stets die russische Sicht und das Bedürfnis nach Sicherheitsgarantien verteidigt. Aber nun zeigt sich: Es ging Putin nie um Sicherheit, es ging um einen imperialen Machtanspruch. Wie fühlt es sich an, so falsch gelegen zu haben?
Matthias Platzeck: Ich teile die Einschätzung nicht, dass es nie um russische Sicherheitsinteressen ging. Fakt ist aber, dass hier ein Kulturbruch stattgefunden hat, ein durch nichts und niemanden zu rechtfertigender Überfall auf ein vom russischen Präsidenten selbst so bezeichnetes Brudervolk. Und ja, ich hätte das für undenkbar gehalten – ich wache nachts auf und hoffe immer, es sei ein böser Traum.
Sie haben erklärt, Putin habe uns alle hinters Licht geführt. Aber es gab ja tatsächlich immer wieder Warnungen. Von den baltischen Staaten, Polen, zuletzt auch von den USA. Warum wollten wir das nicht hören?
Wir haben, wenn man Jugoslawien ausklammert, sieben Jahrzehnte Frieden in Europa erlebt. Die Vorstellung, dass mitten unter uns ein Krieg ausbrechen kann, war durch Verhandlungen und Diplomatie so weit weggerückt, dass man das nicht mehr für möglich gehalten hat. Ich war noch vor Weihnachten in Russland, habe mit vielen Leuten gesprochen. Da war unisono zu hören, es wird alles Mögliche passieren, aber ein Krieg auf gar keinen Fall! Unvorstellbar war auch, dass sich Putin noch vier, fünf Stunden mit dem französischen Präsidenten und dem deutschen Bundeskanzler hinsetzen würde, um ihnen ins Gesicht zu lügen. Denn die Maschinerie muss zu diesem Zeitpunkt längst angelaufen sein.
68, war Ministerpräsident von Brandenburg von 2002 bis 2013 und Vorsitzender der SPD von 2005 bis 2006. Seit 2014 ist der gebürtige Potsdamer ehrenamtlicher Vorsitzender des Deutsch-Russischen Forums.
War es also ein Fehler, bis zum Schluss auf Verhandlungen zu setzen?
Nein, bis zuletzt zu versuchen, Krieg durch Verhandlungen zu verhindern, ist richtig. Was ich mich frage, ist, wie man eigentlich mit einem Staatsführer, der anderen offenkundig und wissentlich ins Gesicht gelogen hat, in Zukunft noch verhandeln, Abmachungen treffen, Verträge schließen will. Dazu fehlt mir im Moment die Fantasie.
Ist es nicht an der Zeit, generelle Überzeugungen infrage zu stellen? Sie und viele andere haben immer behauptet, die Nato-Osterweiterung sei ein Fehler gewesen. Das habe Russland unnötig provoziert. Heute muss man sagen: Wäre die Ukraine 2008 Mitglied der Nato geworden, dann wäre ihr dieser Überfall wohl erspart geblieben.
Man muss sehr vorsichtig sein mit solchen Einschätzungen und immer auch die Atommacht Russland mitdenken. Ich glaube aber, wir werden uns sehr wohl über die Entwicklungen der letzten 20 Jahre beugen müssen. Auch wir im Westen haben mit Sicherheit Chancen und Möglichkeiten liegen lassen.
Wann soll das gewesen sein?
2001 zum Beispiel. In seiner Rede vor dem Bundestag hat Putin von einem europäischen Haus gesprochen. Die Rede ist ja damals auch von allen Fraktionen mit stehenden Ovationen begleitet worden. Da waren die Türen offen. Wir werden später irgendwann rausfinden, warum diese Rede zwar beklatscht, aber in die Schublade gelegt wurde. Aber das ist jetzt alles vergossene Milch, denn mit dem, was der russische Präsident jetzt macht, schüttet er alles in den Abgrund.
Sie klingen jetzt so, als hätte man Putin einfach zu irgendeinem Punkt noch weiter entgegenkommen müssen und dann hätte man sich all dies ersparen können. Glauben Sie nicht, dass Sie darin demselben Irrtum weiter aufsitzen?
Sie können mir glauben, dass ich über meine Irrtümer sehr intensiv nachdenke. Aber wir können doch jetzt nicht so tun, als hätte es die 20, 30 Jahre davor nicht gegeben. Und da kann man doch nicht sagen, die eine Seite hat alles richtig gemacht über 30 Jahre und die andere Seite hat alles falsch gemacht. So fährt Konfliktlösung vor die Wand. Aber noch mal, das ist jetzt auch egal. Wir kehren wahrscheinlich zurück in die 50er, 60er Jahre, die Anfangsphase des kalten Krieges, wo es ganz wenige Verbindungen gab, wo es wenige Möglichkeiten gab, was untereinander und miteinander abzustimmen. In diese durchaus finstere Zeit können wir zurückfallen. Ich habe nur noch eine sehr, sehr kleine Hoffnung.
Welche?
Dass jetzt doch ein paar Leute um Putin herum aufwachen und sagen, das können wir so nicht machen. Ich nehme die Stimmung derzeit in Russland anders wahr als nach der Annektierung der Krim. Damals haben 90 Prozent der Russen, mit denen ich geredet habe, gesagt, das sei richtig. Doch nun hieß es in Gesprächen immer, um Gottes willen, kein Krieg.
Sie hoffen, dass Putin von seinen eigenen Leuten gestürzt wird?
Jedenfalls müssen sie ihn dringend zur Umkehr bringen. Dieser Präsident reißt neben vielem anderen auch die Russische Föderation in den Abgrund.
Die EU hat Wirtschaftssanktionen beschlossen. Russische Banken sollen zudem vom internationalen Zahlungssystem Swift ausgeschlossen werden. Finden Sie die Sanktionen richtig? Sie haben solche in der Vergangenheit abgelehnt.
Ich war kein Freund von Sanktionen. Die seit acht Jahren geltenden Sanktionen waren nicht erfolgreich, im Gegenteil. Aber auf der anderen Seite muss man auch ehrlicherweise sagen, da die militärische Option nicht zur Verfügung steht und die diplomatische nichts gebracht hat, bleibt nur noch dieses Feld der wirtschaftlichen Beeinflussung.
Klebte die SPD bislang zu sehr an den entspannungspolitischen Vorstellungen der späten 1960er Jahre? Sie selbst geben ja auch kein Interview, ohne Willy Brandt und Egon Bahr zu erwähnen.
Ich habe bei Egon Bahr eine ganze Menge lernen dürfen, wir haben auch seine letzte Russlandreise zu Michael Gorbatschow zusammen gemacht. Egon Bahr hat immer für Freiheit und Selbstbestimmung gestanden und betont: Nur der Erhalt des Friedens steht da drüber. Denn ohne Frieden sind alle anderen Werte am nächsten Tag gegenstandslos. Dieser Satz bleibt wahr.
Ex-Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, CDU, behauptet, wir hätten die Lehre von Schmidt und Kohl vergessen, dass Verhandlungen immer den Vorrang haben, aber man militärisch so stark sein muss, dass Nichtverhandeln für die andere Seite keine Option sein kann. Haben wir in unserer friedenspolitischen Fixierung die Wehrhaftigkeit vergessen?
Auch diese Frage gehört auf den Prüfstand. Ich bin bisher immer davon ausgegangen, dass Rüstungsspiralen nie gut sind, sondern die Kriegsgefahr eher erhöhen. Aber wenn man es mit so viel Irrationalität zu tun hat wie jetzt bei Putin, dann muss auch dieser Punkt wahrscheinlich eine andere Beachtung finden.
Deutschland wird jetzt auch Panzerabwehrwaffen und Boden-Luft-Raketen liefern. Ein Paradigmenwechsel. Der notwendig ist?
Alles andere wäre moralisch und auch politisch kaum aushaltbar gewesen.
Sie stehen einer zivilgesellschaftlichen Vereinigung vor, dem Deutsch-Russischen Forum. Laut FAZ waren Sie am 5. Januar bei einem Treffen der sogenannten Moskau Connection der SPD, und zwar auch mit dem Gazprom-Lobbyisten Gerhard Schröder, mit Heino Wiese, der diese Woche seinen Posten als russischer Honorarkonsul niedergelegt hat, und mit Innenstaatssekretär Johann Saathoff. Worum ging es da? War das auch rein zivilgesellschaftlich?
Herr Saathoff, der bisherige Russlandbeauftragte der Bundesregierung, hatte eingeladen. Wir haben dort über Möglichkeiten geredet, auch über die zivilgesellschaftliche Ebene Kontakte weiter zu halten. Wenn nun schon eine Einladung eines Bundestagsabgeordneten zu einem Gespräch vorwerfbar ist, dann wird es ja ein bisschen skurril.
Was ist daran skurril, einmal nachzufragen, wenn Sie mit Ihrer zivilgesellschaftlichen Organisation jemandem wie Gerhard Schröder helfen, den Lobbyismus für Gazprom so zu gestalten, dass Putin sich hier energiepolitisch unverzichtbar macht? Sie haben doch über viele Jahre den Boden mit dafür bereitet, dass niemand mehr in Deutschland davon ausging, dass Putin die Ukraine angreifen würde.
Ich weiß nicht, welches Feld ich Herrn Schröder bereitet haben soll. Ich war in keine seiner Entscheidungen einbezogen oder daran beteiligt. Ich arbeite ehrenamtlich für die Verständigung zwischen zwei Völkern, ohne einen einzigen Pfennig dafür zu erhalten. Ich lasse mir vieles vorwerfen, aber nicht, dass ich viel Zeit und Energie darauf verwende, für Austausch und Begegnungsmöglichkeiten zwischen Menschen zweier Länder zu arbeiten.
Aber zum zivilgesellschaftlichen Austausch hat zu jedem Zeitpunkt die wirtschaftliche Verflechtung gehört. Das deutsch-russische Forum war ein Teil des Komplexes, in dem auch wirtschaftliche Kontakte geknüpft worden sind. Haben Sie nicht das Gefühl, dass Sie und das Forum nur ein Vehikel waren für Deals, an denen sich andere bereichert haben, die dann darauf hingewirkt haben, dass hier Putin systematisch falsch eingeschätzt wurde?
Ich weiß nicht, welche Kenntnisse und welche Vorstellungen Sie vom Deutsch-Russischen Forum haben. Wir organisieren zum Beispiel seit Jahren Austauschprogramme und den größten Sprachwettbewerb für Russisch in Deutschland, wir organisieren Jugendforen, Seminare für Führungkräfte und Journalisten und betreuen in Abstimmung mit der Bundesregierung die 90 Städtepartnerschaften zwischen unseren beiden Ländern. Aber wir verfolgen keine wirtschaftliche Tätigkeit.
Gerhard Schröder bekommt hohe Geldsummen für seine Tätigkeiten für russische Energiekonzerne. Nun auch für den Aufsichtsrat von Gazprom. Wäre es jetzt nicht moralisch geboten, seine Ämter sofort niederzulegen, so wie es auch Österreichs Ex-Kanzler Kern getan hat?
Das muss Gerhard Schröder ganz allein für sich entscheiden.
Setzt das Deutsch-Russische Forum seine Arbeit fort?
Wir hatten am Donnerstag eine lange Vorstandssitzung. Wir arbeiten als zivilgesellschaftliche Organisation seit 25 Jahren daran, Brücken zu bauen, damit das, was jetzt passiert ist, nicht passiert. Etliche Mitstreiter, ich selbst eingeschlossen, haben nun auch ein Gefühl der Sinnlosigkeit dieses Tuns. Wozu war das eigentlich alles gut?
Sehen Sie denn Möglichkeiten, die Kontakte des Deutsch-Russischen Forums zu nutzen, um in Russland die Opposition zu unterstützen und die Menschen, die aktuell gegen den Krieg protestieren?
Wir haben in unserer Erklärung ganz klar formuliert, dass wir an der Seite der Russinnen und Russen stehen, die den Mut haben, sich gegen diesen Krieg zu stellen. Das sagt jeder von uns auch in seinen privaten Gesprächen. Wir spüren, dass viele, vor allem junge Russinnen und Russen, diesen Überfall auf die Ukraine nicht mittragen. Bei allem sollten wir aber nicht vergessen: Die Russen und die Russische Föderation als größtes Land der Erde wird es weiter geben. Sie werden weiterhin die zweitgrößte Atommacht der Welt sein. Freundschaften kann man beenden, Nachbarschaft nicht. Das heißt, wir werden auch in Zukunft mit diesen Nachbarn umzugehen haben. Und dazu wird es mit Sicherheit auch irgendwann wieder zivilgesellschaftliche Kontakte und Begegnungen geben müssen.
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