Massenprozess in Ägypten: 529 Todesurteile verhängt
Nach nur zwei Verhandlungstagen werden hunderte von Menschen zum Tode verurteilt. Sie sind angeblich Muslimbrüder und schuld am Tod eines Polizisten.
KAIRO taz | Ein ägyptischer Richter hat dem Ausdruck, „jemanden den kurzen Prozess machen“ eine neue Bedeutung verliehen: In einem einzigen Verfahren hat er 529 Menschen zum Tode verurteilt – nach nur zwei Prozesstagen. Das Verfahren hatte am Samstag vor dem Strafgericht im südägyptischen Minja begonnen und wurde nach einer turbulenten Stunde auf Montag vertagt. Da hatte der Richter zur Überraschung aller dann bereits sein Urteil parat.
Bei den Verurteilten soll es sich um Anhänger der Muslimbrüder und des im vergangenen Sommer durch einen Putsch vom Amt entfernten ehemaligen Präsidenten Muhammad Mursi handeln. Nur 147 der Verurteilten waren im Gerichtssaal, gegen den Rest erging der Richterspruch in Abwesenheit. Sechzehn Männer wurden freigesprochen. Die Urteile sind noch nicht rechtskräftig. Der Oberste Mufti muss sie bis zum 28. April unterschreiben oder ablehnen, falls das Verfahren nicht schon vorher in Berufung geht.
Die Anklage lautete auf Beteiligung an einem Angriff auf eine Polizeistation in Minja am 14. August 2013. Dort hatte ein Mob eine Wache attackiert, wobei ein hochrangiger Polizeibeamter ums Leben kam. Zuvor hatte es in Kairo Hunderte von Toten gegeben, als ein Protestlager der Putschgegner und Muslimbrüder brutal geräumt wurde. Das Urteil vom Montag fiel, nachdem die Justiz den Antrag der Verteidigung abgeschmettert hatte, das Gericht wegen Befangenheit abzulehnen. Die Anwälte der Angeklagten hatten 24 Stunden Zeit, ihre Verteidigung schriftlich einzureichen.
Gamal Eid, der Direktor des Arabischen Netzwerks für Menschenrechte, spricht von einem „Skandal“ und einer „Katastrophe für Ägypten“. Amr Schalaani, Juraprofessor an der Amerikanischen Universität in Kairo, geht davon aus, dass das Verfahren wegen Fehlern im Prozedere und Mängeln in der Beweisaufnahme in die Berufung gehen wird. „Das ist ein hochpeinliches Urteil, wenn die Justiz noch einen Funken von Würde hat und seinen Ruf auch international schützen will“, sagt er in einem Gespräch mit dieser Zeitung. Entweder sei der Richter „total inkompetent oder er hat Anweisungen von oben erhalten, ein politisches Urteil zu fällen“.
Justiz nicht unabhängig
Die Exekutive habe die Justiz fest im Griff. Niemand habe in den vergangenen Jahren ernsthaft versucht, das Rechtswesen zu reformieren – unter dem obersten Militärrat ebenso wenig wie unter dem Muslimbruder-Präsidenten Muhammad Mursi oder nach dessen Sturz, sagt Schalaani. Die Justiz sei schon seit den 1960er Jahren unter dem damaligen Präsidenten Gamal Abdel Nasser nicht unabhängig. Selbst zu Mubaraks Zeiten gab es aber immer wieder einzelne Richter, die sich dem Regime widersetzten und Beschuldigte freisprachen, weil sie nur unter Folter gestanden hatten.
Expräsident Mubarak hatte die Militärgerichtsbarkeit gegen Zivilisten und die Notstandsgerichte zu einem parallelen Gerichtssystem ausgebaut, um auf diese Weise eine für das Regime verlässliche Justiz zu gewährleisten. Das funktioniert offensichtlich bis heute, da 529 Menschen für einen getöteten Polizeioffizier zum Tode verurteilt werden. Nach dem Sturz Mubaraks standen 186 Polizeioffiziere wegen des Todes von 840 Demonstranten vor Gericht – doch nur drei kleine Beamte wurden dafür bisher rechtskräftig verurteilt, alle anderen freigesprochen. Das Verfahren gegen den damaligen Innenminister ist immer noch nicht abgeschlossen.
Am Dienstag beginnt ebenfalls in Minja ein erneuter Massenprozess gegen weitere 700 vermeintliche Anhänger der Muslimbrüder. Gleichzeitig ging am Montag in Kairo die Verhandlung gegen 20 Journalisten weiter, die seit 100 Tagen eingesperrt sind und denen vorgeworfen wird, bei ihrer Berichterstattung eine terroristische Gruppe unterstützt zu haben, weil sie Kontakte zur Muslimbruderschaft hatten. Angeklagt sind unter anderem der australische Korrespondent Peter Greste, der kanadisch-ägyptische Bürochef Muhammad Fahmi und der ägyptische Produzent Muhammad Baher, die für den englischsprachigen Sender Jazeera International gearbeitet haben. Der nächste Prozesstag wurde auf den 31. März festgelegt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Fans angegriffen
Gewalt in Amsterdam
+++ Nach dem Ende der Ampel +++
Habeck hat Bock
Auflösung der Ampel-Regierung
Drängel-Merz
Die Regierungskrise der Ampel
Schnelle Neuwahlen sind besser für alle
Angriffe auf israelische Fans
Sie dachten, sie führen zum Fußball
Schönheitsideale in der Modewelt
Zurück zu Size Zero