„Marsch für das Leben“ in Berlin: Gegen die individuelle Freiheit
Mitte September ziehen wieder selbsternannte LebensschützerInnen durch Berlin. Sie demonstrieren für ein generelles Abtreibungsverbot.
Dann ist es also wieder so weit: Der Bundesverband Lebensrecht ruft zum „Marsch für das Leben“ auf. Der Verein will ein generelles Verbot von Abtreibungen erreichen. Seit der Marsch zum ersten Mal vor sieben Jahren mit 500 bis 1.000 DemonstrantInnen öffentlichkeitswirksam wurde, steigt die Beteiligung stetig.
Seit einigen Jahren verstärkt sich aber auch der Gegenprotest. „Die sogenannten LebensschützerInnen wurden lange Zeit nicht als Problem ernst genommen“, sagt Silke Stöckle, Sprecherin vom Bündnis Sexuelle Selbstbestimmung. Unter dessen Dach veranstalten zivilgesellschaftliche und parteipolitische Organisationen seit 2012 Gegenkundgebungen. Motto: „Leben und Lieben ohne Bevormundung“. „Als der Protest der selbst ernannten LebensschützerInnen breiter wurde, erkannten viele GegnerInnen die Bedrohung, die davon ausgeht“, sagt Stöckle: „Vorher dachte man, das ist ein kleiner Haufen fundamentalistischer Spinner.“
Diese Einschätzung teilen die AutorInnen Eike Sanders, Ulli Jentsch und Felix Hansen vom Berliner antifaschistischen Pressearchiv und Bildungszentrum. Die drei haben zum organisierten „Lebensschutz“ geforscht und herausgefunden, dass es sich bei der Bewegung um eine gut in der Politik vernetzte, politische und religiöse Bewegung handelt.
Antifeministisch und antiliberal
Der symbolisch aufgeladene Kampf gegen Abtreibung erfülle heute eine Vehikelfunktion „für eine umfassende Kulturkritik“ an der offenen, säkular-aufgeklärten und demokratisch-pluralistischen Gesellschaft. Im Kern sei die Bewegung antifeministisch und antiliberal. Sie richte sich gegen individuelle Freiheiten der modernen Gesellschaft und gegen das Recht auf eine selbstbestimmte Lebensweise.
Die „LebensschützerInnen“ haben ihre Lobbyarbeit professionalisiert und moralisch umkämpfte Themen wie Sterbehilfe, Stammzellforschung, Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik in den Mittelpunkt ihrer Kampagnen gestellt. So werde die Bewegung im gesellschaftlichen Mainstream anschlussfähig.
Unter den HolzkreuzträgerInnen findet sich seit einigen Jahren jenes Milieu der bürgerlichen Mitte, das sich als „besorgte BürgerInnen“ begreift. Dessen angstbesetzte wie ressentimentgeladene gesellschaftspolitische Wunschagenda – normierte Zweigeschlechtlichkeit mit klaren Rollenbildern statt „Genderwahn“, patriarchal-heterosexuelle „Kernfamilie“ statt „Homoehe“ und Selbstbestimmung und Pluralität von Lebensentwürfen – findet häufig auf Plakaten des Marsches Ausdruck.
„Die Ansichten der Leute, denen wir beim ‚Marsch‘ gegenüberstehen, sind fast identisch mit denen besorgter Eltern, mit denen wir bei den Protesten gegen den Bildungsplan für umfassende sexuelle Aufklärung konfrontiert sind“, sagt der Sexualpädagoge Ringo Stephan. Die Initiative Vielfalt statt Einfalt, für die Stephan arbeitet, ruft mit zum Gegenprotest auf. Die „LebensschützerInnen“ seien eine „rückwärtsgewandte, konservative Welle, die gerade die ganze Gesellschaft durchzieht“, so der Experte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Biden genehmigt Lieferung von Antipersonenminen